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Am 18. Sonntag nach Trinitatis spricht Pfarrer Ralf Andreas Gmelin zu der Geschichte, als die Menschen die 10 Gebote empfangen:

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und dem HERRn Jesus Christus.

Der Erntedank soll heute auch die 60 Jahre einbeziehen, die unsere evangelische Kirche in Hessen und Nassau besteht. Dafür hätte man einen ganz anderen Predigttext suchen können. Ich fand aber, dass der für heute vorgeschlagene Predigttext gar nicht so schlecht passt für die Frage, was eine Kirche soll und ist: Es sind die zehn Gebote aus dem zweiten Buch Mose :

2. Mose 20,1-21, Die zehn Gebote
Und Gott redete alle diese Worte:
Ich bin der HERR, dein Gott,
der ich dich aus Ägyptenland,
aus der Knechtschaft, geführt habe.
Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.
Du sollst dir kein Bildnis
noch irgendein Gleichnis machen,
weder von dem, was oben im Himmel,
noch von dem, was unten auf Erden,
noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist:
Bete sie nicht an und diene ihnen nicht!
Denn ich, der HERR, dein Gott,
bin ein eifernder Gott,
der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer,
die mich hassen,
aber Barmherzigkeit erweist an vielen tausenden, die mich lieben und meine Gebote halten.
Du sollst den Namen des HERRN, deines Gottes, nicht mißbrauchen;
denn der HERR wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen mißbraucht.
Gedenke des Sabbattages, daß du ihn heiligest.
Sechs Tage sollst du arbeiten
und alle deine Werke tun.
Aber am siebenten Tage ist der
Sabbat des HERRN, deines Gottes.
Da sollst du keine Arbeit tun,
auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Vieh,
auch nicht dein Fremdling,
der in deiner Stadt lebt.
Denn in sechs Tagen hat der HERR Himmel und Erde gemacht und das Meer und alles, was darinnen ist, und ruhte am siebenten Tage. Darum segnete der HERR den Sabbattag und heiligte ihn.
Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf daß du lange lebest in dem Lande, das dir der HERR, dein Gott, geben wird.
Du sollst nicht töten.
Du sollst nicht ehebrechen.
Du sollst nicht stehlen.
Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.
Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Rind, Esel noch alles, was dein Nächster hat.
Und alles Volk wurde Zeuge von dem Donner und Blitz und dem Ton der Posaune und dem Rauchen des Berges.
Als sie aber solches sahen,
flohen sie und blieben in der Ferne stehen
und sprachen zu Mose:
Rede du mit uns, wir wollen hören;
aber laß Gott nicht mit uns reden,
wir könnten sonst sterben.
Mose aber sprach zum Volk:
Fürchtet euch nicht, denn Gott ist gekommen, euch zu versuchen, damit ihr's vor Augen habt, wie er zu fürchten sei, und ihr nicht sündigt.
So stand das Volk von ferne,
aber Mose nahte sich dem Dunkel,
darinnen Gott war.

 
HERR, tu meine Lippen auf, dass mein Mund Deinen Ruhm verkündige.

 
Liebe Gottesdienstgemeinde,

Jesus hat eine ziemlich unmoderne Meinung zu den zehn Geboten.

Er sagt dazu im Matthäusevangelium:

„Ihr sollt nicht meinen, daß ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen;
ich bin nicht gekommen aufzulösen,
sondern zu erfüllen.
Denn wahrlich, ich sage euch:
Bis Himmel und Erde vergehen,
wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz, bis es alles geschieht.
Wer nun eines von diesen kleinsten Geboten auflöst und lehrt die Leute so,
der wird der Kleinste heißen im Himmelreich; wer es aber tut und lehrt,
der wird groß heißen im Himmelreich.
Denn ich sage euch:
Wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.“ Mt 5,17-20

 
Zu unserem täglichen Brot gehört auch, dass es in unserem Leben ein falsch und richtig, ein gut und böse, ein nützlich und unnütz und schließlich ein gottgefällig und sündig gibt. Daran ändert auch eine moderne Lust am Indifferenten, Unentschiedenen und Gleichgültigen nichts: Fast jeder Mensch fragt sich, was für ihn persönlich richtig und falsch ist.

Es ist aber das Ergebnis der Moderne, dass jeder von uns eine andere Antwort findet und unsere Gesellschaft erleiden muss, dass es nur wenig gemeinsame Berührungspunkte gibt. Diese Erleiden trägt in unserer modernen Sprache den vornehmer klingenden Namen der Toleranz.

Aus dem Erleiden heraus ist vor 60 Jahren unsere Kirche gegründet worden. Nirgendwo in Deutschland hat die evangelische Kirche so unter dem Einfluss des Nationalsozialismus gelitten wie hier im Kirchengebiet.

Die nationalsozialistische Obrigkeit hatte hier den Zusammenschluss dreier Landeskirchen verfügt: Die Kirche von Hessen-Darstadt, im ehemaligen Großherzogtum, wurde mit der lutherischen Kirche von Frankfurt am Main und der nassauischen Landeskirche verschmolzen. An die Spitze setzte man einen der damaligen Nazi-Obrigkeit hörigen Bischof, Ernst Ludwig Dietrich.

Seine Versuche, das nationalsozialistische Führerprinzip in der Kirche anzuwenden, ließ in unserem Kirchengebiet viele Pfarrer gegen diese Einflussnahme protestieren. Die Entstehung einer protestierenden „Bekennenden Kirche“ in ganz Deutschland wurde darum gerade hier erheblich unterstützt. Der Pfarrernotbund, den der im Berliner Ortsteil Dahlem wirkende Martin Niemöller, hatte hier viele Mitglieder und als erster nassauischer Geistlicher trat der Ringkirchenpfarrer Wilhelm Merten dem Pfarrernotbund bei. Von 1933 -1965 wirkte Merten hier in der Ringkirche. –

Darum ist es kein Wunder, dass die durch den Krieg versprengten Bekenntnispfarrer sich nach dem Krieg um diese hessische Landeskirche bemühen. Ohne sie hätte es unsere Kirche vielleicht gar nicht gegeben. Weil der Zusammenschluss der drei Landeskirchen durch die Nazis geschehen war, wollte vornehmlich die Kirche in Hessen-Darmstadt zunächst wieder in die Selbständigkeit. Durch Beharrlichkeit erreichten die Bekenntnispfarrer, dass die alte nassau-hessische Kirche weiterhin bestehen blieb. Die Geburtsstunde unserer Kirche war zwar in der Tat der Kirchentag in Friedberg am 30. September 1947, aber die Grundsätze waren dieser Kirche bereits mitgegeben worden auf der Bekenntnissynode von 1946, die von Männern wie Martin Niemöller geprägt war.

In Friedberg wird ein BK-Pfarrer zum Präses gewählt: Dr. Hans Wilhelmi. Sein Stellvertreter wird ebenfalls ein BK-Mann, Wilhelm Hahn. Hahn hat als 11. Pfarrer an der Ringkirche von 1928 bis 1950 auf dieser Kanzel gepredigt.

Der folgenreichste Beschluss des Kirchentags war indessen die Wahl von Martin Niemöller zum Kirchenpräsidenten, einem Amt, das sich von den evangelischen Bischöfen vornehmlich dadurch unterschied, dass es auf Zeit verliehen wurde und nicht auf Lebenszeit. Dennoch sind es bei Niemöller durch Wiederwahlen 17 Jahre im Leitungsamt geworden. Das Informationsblatt unserer Kirche zu ihrem 60. Geburtstag charakterisiert die Folgen, die Niemöller haben wird:

Mit der Wahl von Martin Niemöller (1892-1984) zum ersten Kirchenpräsidenten, dem früheren U-Boot-Kommandanten, Berliner Pfarrer und persönlichen Gefangenen Adolf Hitlers im Konzentrationslager Dachau, einem führenden Vertreter der Bekennenden Kirche, wurde zugleich eine Richtungsentscheidung getroffen: Viele ihrer Amtsträger verstanden sie fortan als eine Kirche in der Tradition der Bekennenden Kirche mit ihrem Aufbau der Kirche von der Gemeinde her (und nicht etwa vom Bischof, einem Leitungsgremium oder einer Behörde) und ihren „bruderrätlichen“ Leitungsstrukturen (Schwestern waren damals noch weniger im Blick).

Für die Folgezeit war wichtig, dass sich die junge Kirche eine Kirchenordnung gibt. Dazu wurde ein verfassungsgebender Ausschuss gegründet, in dem an wichtiger Stelle der Professor Martin Schmidt wirkte. Er hatte bereit im Jahr 1922 nach dem Zusammenbruch der kirchlichen Verhältnisse wie sie vor dem ersten Weltkrieg waren, eine Kirchenverfassung für das damalige Nassau verfasst. Von 1918 bis 1928 war er Pfarrer an der Ringkirche Wiesbaden. Seit 1929 lehrte er als Professor für Religionswissenschaften in Frankfurt, bis er 1933 entlassen worden war. Er wurde auch zum langjährigen Herausgeber der Kirchenzeitung „Weg und Wahrheit“, die über die Kirche wöchentlich informierte. Als der ehemalige Ringkirchenpfarrer Wilhelm Hahn aus dem verdienten Ruhestand zurückgerufen wird, um Stellvertreter des Kirchenpräsident zu werden, rückt der ehemalige Ringkirchenpfarrer Martin Schmidt nach als stellvertretender Präses der Synode. Noch eine kleine Anekdote aus der Zeit ab 1950: Auch der Sohn des stellvertretenden Kirchenpräsidenten Wilhelm Hahn, Volkmar Hahn wurde als Präsidialvikar in das leitende Geistliche Amt berufen. Kenner der Darmstädter Verhältnisse meinten daraufhin scherzhaft, dass der hessen-nassauischen Kirche jetzt nur noch der Heilige Geist fehle: Vater und Sohn hätten sie ja nun schon.

Die Verfassung der alten EKHN, wie sie sich ab jetzt abkürzte, stellte die Gemeinde in den Vordergrund: Viele einzelne Gemeinden, die sich Jesus Christus verpflichtet sehen, lassen sich kaum je durch eine neue weltanschauliche Macht wie es die NsdAP gewesen war, manipulieren. Diese klare Lehre aus der Zeit des Dritten Reiches ist heute praktisch vergessen. Die heutige Kirche wird immer stärker zu einer zentralen Behörde, in der die Gemeinden mehr und mehr zu Spielbällen gemeindeübergreifender Machtansprüche werden. Das Erbe Niemöllers und seiner Mitstreiter ist in der Gegenwart unserer Kirche kaum noch auszumachen.

Aber nicht Kritik an der Kirche und ihrer Politik steht heute im Vordergrund, sondern Dank für das, was die Kirchengründung damals bewirkt hat. Auch wenn die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, die Niemöller eingefordert hatte, viele vor den Kopf stieß: Die klare Distanzierung vom Mitläufertum und von der Verantwortungsverweigerung weiter bürgerlicher Kreise öffnete der damals jungen Bundesrepublik viele Herzen in der Welt. Gerade Martin Niemöller, aufgrund seiner hohen Bekanntheit im Ausland, sorgte auch dafür, dass die evangelischen Christen aus Deutschland in der Welt der Nachkriegszeit rasch wieder in die geschwisterlichen Reihen der anderen Kirchen aufgenommen wurden.

In den Jahren nach dem Krieg, in denen das Vertrauen in alle Institutionen in Deutschland erschüttert war, haben sich auch viele Menschen an der Kirche orientiert, die vorher und später wieder von ihr abgerückt sind. Viele waren zuvor – während des Dritten Reiches – aus der Kirche ausgetreten und kamen nun zurück. Und viele Menschen traten in der Nachkriegszeit wieder aus der Kirche aus, statistisch erweislich immer dann, wenn höhere Steuerbelastungen kamen. Aus den 2,3 Millionen Kirchenmitgliedern im Jahr 1970 sind nunmehr 1,8 Millionen Kirchenmitglieder im Jahr 2006 geworden, obwohl die Bevölkerung in unserem Kirchengebiet um eine halbe Million Menschen größer geworden ist.

Dass die kleiner werdende Zahl von Kirchenmitgliedern nicht heißt, dass unsere Kirche stirbt, beweist eine Mitgliedschaftsstudie aus der jüngsten Zeit: Die Zufriedenheit mit ihrer Kirche ist bei denen, die noch dabei sind, eher gewachsen als gesunken. Dennoch hat eine schrumpfende Organisation große Probleme: Die Zahl der Gebäude, Mitarbeiter, der Kostendruck, all das wird von der kirchlichen Zukunft Phantasie, Entscheidungsbereitschaft und neue Wege verlangen.

Aber es wird die evangelische Kirche auch auf das konzentrieren, was ihr den Namen gegeben hat: Kirche der frohen Botschaft von Jesus Christus zu sein. Nicht für die Kunstgeschichte oder für menschliche Eitelkeit wurden Großkirchen wie die Ringkirchen errichtet, sondern, um der Verkündigung des Evangeliums zu dienen. Ich glaube, dass unsere Botschaft immer wichtiger wird, je weniger wir prozentual an Köpfen innerhalb unserer Bevölkerung zählen. Dass unsere Kirche den Veränderungen und Anforderungen Stand gehalten hat, dafür danke ich Gott. Dass sie auch falsche Wege und Fehler ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aushält, das tröstet uns und gibt uns Hoffnung, dass wir unsere liebe Evangelische Kirche in Hessen und Nassau in einem anständigen Zustand an unsere Kinder weitergeben können, damit sie eine „Gemeinschaft der Heiligen“ erleben, in der ihr Glauben wachsen kann.

Fürchtet euch nicht, denn Gott ist gekommen, euch zu versuchen, damit ihr's vor Augen habt, wie er zu fürchten sei, und ihr nicht sündigt.

So stand das Volk von ferne,
aber Mose nahte sich dem Dunkel,
darinnen Gott war.

So endet die Geschichte mit den zehn Geboten. Dass wir Menschen uns dem Dunkel nähern können, in dem für uns Gott ist, das ist die Aufgabe der Kirche. Dass wir diesem Gott nachfolgen in die Freiheit hinaus aus dem menschgemachten Sklavenhaus, dafür steht in dieser Geschichte Mose. Große Aufgaben hat eine Kirche der Zukunft, die sich auf die Geschichten des Alten und Neuen Testaments beruft.

Gott lass uns Gemeinschaft sein in DEINER Kirche, lass uns für eine lebendige Kirche wirken, in der auf DEIN Evangelium gehört wird und wo diese Frohe Botschaft lebt, denn dein  Friede, welcher höher ist denn alle Vernunft, bewahre unsre Herzen und Sinne in Christo, Jesu, Amen.