Am 16. Sonntag nach Trinitatis
predigt Pfarrer Ralf-Andreas Gmelin zu der Geschichte vom Jüngling
zu Nain, Lukas 7, 11ff:
Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und dem HERRn
Jesus Christus.
Lassen Sie uns in das Städtchen gehen, das Nein heißt. Es
ist nicht weit vom Heimatort Jesu entfernt, etwa so weit wie
Bretzenheim.
Jesus wird von vielen begleitet, aber auch in unser biblisches
Bretzenheim ist sein Ruf ihm vorausgeeilt. Im Lukasevangelium lesen
wir:
7,11-17 11 Der Jüngling zu Nain
Und es begab sich danach,
daß er in eine Stadt mit Namen Nain ging;
und seine Jünger gingen mit ihm
und eine große Menge.
Als er aber nahe an das Stadttor kam,
siehe, da trug man einen Toten heraus,
der der einzige Sohn seiner Mutter war,
und sie war eine Witwe;
und eine große Menge aus der Stadt ging mit ihr.
Und als sie der Herr sah, jammerte sie ihn,
und er sprach zu ihr: Weine nicht!
Und trat hinzu und berührte den Sarg,
und die Träger blieben stehen.
Und er sprach: Jüngling, ich sage dir, steh auf!
Und der Tote richtete sich auf
und fing an zu reden,
und Jesus gab ihn seiner Mutter.
Und Furcht ergriff sie alle,
und sie priesen Gott und sprachen:
Es ist ein großer Prophet unter uns aufgestanden, und: Gott hat
sein Volk besucht.
Und diese Kunde von ihm erscholl in ganz Judäa und im ganzen
umliegenden Land.
HERR, tu meine Lippen auf, dass mein Mund Deinen Ruhm verkündige.
Liebe Gottesdienstgemeinde,
natürlich: Wir Menschen wollen Sensationen sehen, Wunder,
besondere Attraktionen. Und Jesus stöhnt über unsere Gier
nach Neuem, dass wir ja nur auf Zeichen und Wunder aus seien.
Aber wie sollen Menschen begreifen, dass Gott für einen Augenblick
der Ewigkeit in unserer Zeit da ist. Der Ewige macht sich klein und
schlüpft in unsere vergehende Zeit. Eine ungeheure Vorstellung
nicht nur für die Menschen zur Zeit Jesu, sondern auch für
uns.
Und wenn der Schöpfer des Lebens, der HERR des Lebens und die
Quelle alles Daseins unter uns ist, dann braucht das Beweise, die kurz
nach unserer Geschichte im Lukasevangelium aufgeschrieben steht:
„Blinde werden sehend, Lahme gehen, Aussätzige werden rein, Taube
hören, Tote stehen auf, Armen wird Freudenbotschaft
verkündigt. Und selig ist, wer an mir keinen Anstoß nimmt!“
Der HERR des Lebens ist kein Phantasieprodukt von Priestern, kein
Herrschaftsinstrument der Mächtigen, sondern die Quelle unseres
Menschseins.
Es gibt einen traditionellen Streit darüber, ob es solche Wunder
gegeben hat. Einen Streit darüber, ob alles genau so stattgefunden
hat, wie es in unseren Evangelien steht. Der große Theologe
Daniel Friedrich Schleiermacher, dessen Bildnis in der
Reformatorenhalle auf uns hernieder schaut, hat dazu gemeint: Das
größte Wunder Gottes ist, dass er die einmal uns geschenkten
Naturgesetze nicht wieder außer Kraft gesetzt hat.
Aber andererseits: Wenn wir uns frei machen von der Frage nach dem, wie
es wirklich gewesen ist, frei von der Frage der Historizität, dann
sagt diese Geschichte: Wenn Gott sich auf der Erde zeigt, dann hat das
Folgen:
Und es ist kein Gott des Opfers, kein Gott, der möchte, dass sich
einer Sprengstoff um die Hüften bindet und viele andere Menschen
in die Luft sprengt, es ist kein Gott des Todes, der alle verkehrt
Lebenden Menschen die Hand abhackt, steinigt oder für vogelfrei
erklärt.
Nein, es ist ein Gott des Lebens, der auch ein geknicktes Rohr wieder
aufrichten kann und aus einem glimmenden Docht wieder ein lustig
flackerndes Licht machen kann. Wie es das Matthäusevangelium sagt:
„Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht
wird er nicht auslöschen, bis er das Recht hinausführt zum
Sieg.“ Mt 12,20
Aber Hand auf’s Herz: Wie gerecht ist es, dass Gott sich von der einen
Witwe rühren lässt und von Tausenden anderen Witwen nicht?
Wieviel andere Witwen haben ihren einzigen Sohn, ihre einzige Freude im
leben begraben müssen und Gott kam nicht vorbei? Wieviel Frauen
haben in der Einsamkeit der Kriegsjahre hier auf den Bänken der
Ringkirche gesessen und für die Rückkehr von Mann und Sohn
gebetet. Sie haben vielleicht auch diese Geschichte im Gottesdienst
gehört und auf das Wunder gehofft, dass die Benachrichtigung
falsch ist, die statt ihren Angehörigen nach Hause kam. Tot und
vermisst.
Gottes Liebe ist nicht nach einem Tarifvertrag einklagbar. Gleiche
Leistungen für gleichen Einsatz? Das gilt vor Gott nicht, weil
sein Horizont um so viel höher ist als unsere Gerechtigkeit, die
so wenig weiß und noch weniger einzubeziehen vermag in ihre
Entscheidung und Beurteilung.
Haben Sie schon leidenschaftlich und das Überleben eines Menschen
gebetet?
Ich selbst habe es einige Mal getan. Und das war nicht am Sonntag, den
28. Januar dieses Jahres, als ich hier Gottesdienst gehalten habe und
bei meiner Rückkehr aus der Ringkirche nach hause erfuhr, dass
meine Mutter gestorben war. Mutter war seit vier Jahren am Sterben, das
hat die Leidenschaft des Gebets weggerückt vom Ringen um ihr
Überleben zu einem: „Mach es gut mit ihr, Gott. Du weißt,
was für sie das Richtige ist.“ Nein, das ist kein sehr
leidenschaftliches Gebet.
Ich habe mich auch nicht getraut um meinen kleinen Hund zu beten, der
13 Jahre an meiner Seite gelaufen ist, als der am 23. April gestorben
ist. Ich wollte Gott nicht mit meiner kleinen egoistischen Trauer
belasten.
Aber das eine Mal habe ich auf einer Tagung um das Überleben einer
Kollegin gebetet, die einfach vom Stuhl fiel und starb. Irgendwo weit
abgelegen im Odenwald. Mein Gebet wurde nicht erhört. Weder unsere
stümperhaften Maßnahmen, noch der spät eintreffende
Notarzt konnte an ihrem Tod etwas ändern. Habe ich Gott vielleicht
nur gebeten, den Tod anzuhalten, weil er aus uns, einer Gruppe
erwachsener Pfarrerinnen und Pfarrer einen Haufen hilfloser kleiner
Kinder gemacht hat? Ich habe nicht verstanden, was in diesem Augenblick
der Gott des Lebens von uns wollte. Ich habe nicht verstanden, was der
Gott des Lebens mit dem Tod der Kollegin von uns genommen hat.
Ein anderes Mal habe ich wochenlang leidenschaftlich um ein
Menschenleben gebetet und Gott hat dieses Gebet erhört. Er hat es
ganz anders erhört als ich es wollte, aber ein Leben blieb bewahrt
und blieb dieser Erde und unserer Zeit verbunden. Aus der Zeit des
Ringens um ein Menschenleben ist eine intensive Zeit des Ringens mit
Gott geworden.
Es gab noch andere leidenschaftliche Augenblicke, in denen Gott mit
seiner Nähe und Liebe bei mir war. Die Geburt von zwei Kindern und
zum Beispiel das Stoßgebet, als eines der Mädchen nicht
gleich zu atmen begann. Das alles ging sehr schnell, war kurz, aber von
ungeheurer Intensität.
Herbstanfang: Die Zeit, das eigene Leben zu überschauen und auch
die Zeiten der Gottnähe zu entdecken, die uns vielleicht im Eifer
unseres Strebens und Ringens gar nicht so klar geworden ist.
Ich wünsche Ihnen allen gute Erinnerungen, Augenblicke der
Bewahrung und dass diese kostbaren Erlebnisse ausstrahlen in Ihre
Zukunft, auf die der HERR des Lebens schauen wird, wie ER es in der
Vergangenheit auch getan hat. – Auch wenn ER es uns oft anders schickt,
als wir es uns gewünscht hätten.
Gott schenke Du uns, dass wir annehmen können, was DU uns
schickst. Dass wir auch in den schmerzhaften Augenblicken erkennen
können, dass DU dennoch unser liebender Vater bist, denn
dein Friede, welcher höher ist denn alle Vernunft, bewahre
unsre Herzen und Sinne in Christo, Jesu, Amen.