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Am 8. Mai hält Ralf-Andreas Gmelin Predigt in Erinnerung an 60 Jahre Frieden seit der Kapitulation am 8. Mai 1945:

Das Jahr 1945 war schon eine Weile her, als ich im Jahr 1958 geboren wurde. Das Jahr 1944 war aber noch viel weiter weg. Bei uns zuhause wurde über den historischen Nullpunkt nicht gesprochen, aber er wurde gelebt: Als Kind hatte ich das Gefühl, dass die Zeit, in der ich lebe, erst am 8. Mai 1945 begonnen hatte – auch wenn ich von diesem Datum noch nichts wusste.

Die Welt vorher hatte es gegeben. Auch sie kam vor - in Erzählungen: Aber es waren Geschichten aus einer anderen Welt. Sie standen in keinem echten Zusammenhang mit der wirklichen Welt, in der wir jetzt zuhause waren. In diesen Geschichten aus uralten Zeiten ging es anders zu. Nur das Haus war noch dasselbe, die Luftmine, die im Dezember 1944 aus dem Vorgarten einen Bombentrichter sprengte, hatte reparable Schäden angerichtet. Und in der kleinen Welt meiner Kindheit brach diese alte verblasste und nur in Geschichten existierende Welt selten herein:
Als Geschichten waren die alten Zeiten durchaus lebendig: Wie ein Märchen hörte sich das Abenteuer meiner Großmutter an, wenn sie erzählte. Uns Kindern war ihr Dackel namens Meise, den wir nie kennen gelernt hatten, vertraut, und wir sahen uns, wenn sie erzählte,  auf der Anhöhe vor meiner Heimatstadt Gießen, wo dieser Dackel mit meiner Großmutter stand, als der Nachthimmel sich rot färbte von den Flammen, die zwei Drittel der bombardierten Häuser vernichteten. Dass es derselbe Himmel war, der auch über uns zu sehen war, schien uns unmöglich. Die Kriegserlebnisse meines Vaters hörten wir uns aus diesem Grund nicht ungern an: Es waren Märchen aus uralten Zeiten, die so überhaupt nicht in unsere Welt der Lebenden passten.

2077 Tage hatte der Krieg in Europa gedauert, - vom 1. September 1939 um 4.45 Uhr bis zum 8. Mai 1945 um 23.01 Uhr. Und er hatte die vorherige Welt irgendwie ausgelöscht, die Welt in der die Erwachsenen aufgewachsen waren und die nun uns Kinder erzogen für eine andere, für eine neue Zeit.

Zu dieser Zeit, in der ich groß werden durfte, gehörte der Frieden. Daran hatte die Wiederbewaffnung beider deutscher Staaten nichts geändert, daran hatte die mit Stacheldraht abgedichtete Zonengrenze zur damaligen DDR nicht gerührt und auch nicht die Berlin-Blockade 1948 oder die 1961 errichtete Berliner Mauer. Der Einmarsch des Ostblocks in die Tschechoslowakei, die den Prager Frühling 1968 in militärischem Eis erstarren ließ, führte zwar zu Ausgangssperren in den Kasernen, aber nicht zum Krieg. Die zahllosen Kriege, die in der Welt geführt wurden, waren für uns Deutsche Berichte aus Zeitung, Rundfunk und Fernsehen. Wer von uns wusste schon wirklich, wo Vietnam lag oder Korea oder was hinter der Kubakrise steckte? Das Misstrauen, das die beiden feindlichen Lager der Welt zu einem, wahnsinnigen Rüstungswettlauf trieb, sorgte dafür, dass diese Friedenszeit auf einem Waffenarsenal aufruhte, das unsere gesamte Erde mehrfach vernichten konnte. Was beim Abwurf der Atombomben in Hiroshima und Nagasaki begonnen hatte, endete im Jahr 1953 mit der Gewissheit, dass sowohl die USA als auch die UdSSR im Besitz der Wasserstoffbombe sind. Und dennoch dreht sich die Erde noch und bewegt sich um die Sonne.

Im Rückblick erscheint diese Zeit wie der Augenblick nach der Sintflut, als Gott in der Bibel in seinem Herzen spricht: „Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen; denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf. Und ich will hinfort nicht mehr schlagen alles, was da lebt, wie ich getan habe. Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“

Wir haben heute allen Grund, Gott dafür dankbar zu sein, dass der Mensch seine größenwahnsinnige Gewalt nicht gegen unsere Erde gerichtet hat. Dass die deutsche Katastrophe auch Ausdruck einer religiösen Haltung war, dass im Zusammenbruch, in der Befreiung und Besetzung durch alliierte Soldaten eine direkte Folge der gottwidrigen Ideologie des Nationalsozialismus zu sehen sei, das war eine Vorstellung, die nicht wenige vertraten. Unter den aus dieser Zeit stammenden Gedichten zeugt manches davon, wie das Dies Irae von Werner Bergengruen bezeugt. Meine ehemalige Deutschlehrerin erinnert sich an die Monate nach dem Krieg, dass solche Gedichte den Zeitgenossen viel gegeben haben. Es wurde viel gelesen, aber nicht zur Unterhaltung, sondern zur Orientierung.

Am Ende soll noch ein Gedicht stehen, das Ricarda Huch geschrieben hat. Noch im Krieg war ein Gedichtbändchen unter dem, Titel „Herbstfeuer“ erschienen, das direkt nach dem Krieg neu aufgelegt wurde. In dieser Nachkriegsausgabe findet sich ein Gedicht „An unsere Märtyrer“. Ricarda Huch erinnert darin an die vielen, die während der Nazizeit ihr Leben verloren hatten, weil sie gegen das mörderische Regime gekämpft hatten. Nicht wenige von denen, die im Zuge des 20. Juli 1944 ihr Leben verloren kannte die Dichterin persönlich. Die in München zum Tode verurteilten Geschwister Scholl, denen in diesem Jahr ein Kinofilm ein weiteres Denkmal gesetzt hat, wurden durch die Arbeit von der damals bereits hoch betagten Ricarda Huch berühmt. Auch hier ist die Treue zu Gott eine Pflicht, die die Dichterin als Vorsatz aufstellt.

AN UNSERE MÄRTYRER
SCHMERZEN, unsägliche, litt der griechische Heros, bevor er
Sterben durfte und die erlösende Flamme noch schmerzte.
Meine Helden, geliebte, ihr littet schwerer als jene,
Schmachvoll gemartert, verhöhnt, von keinem Freunde getröstet.
Ihr, die das Leben gabt für des Volkes Freiheit und Ehre,
Nicht erhob sich das Volk, euch Freiheit und Leben zu retten.
Ach, wo seid ihr, daß wir eure Wunden mit Tränen der Reue
Waschen und eure bleichen Stirnen mit Lorbeer krönen!
Weilt ihr jetzt auf der Insel in ferner, seliger Bläue,
Wo die Sirenen des Meers euch mit Gesängen umschwärmen?
Oder droben im reinen, himmlischen Äther? Ihr wandelt
Herrlich wie das Gestirn seine melodische Bahn.
Wir aber wollen Male richten euch zum Gedächtnis;
Wo auf Hügeln stürmische Eichen grünen, wo die
Silberne Buche ragt und die rötliche Kiefer am Meere,
Stehe der Marmor und glühe die Flamme der heiligen Namen.
Dort, ihr Glorreichen, wollen wir euer gedenken und schwören,
Tapfer wie ihr zu sein, dem Recht und der Freiheit zu dienen,
Niemals treulos und feige den Gott in der Brust zu verleugnen,
Der uns zu lieben treibt und im Kampf mit dem Bösen zu sterben.
Wir vergessen euch nicht. Oft wird euer tragisches Opfer
Unser Gespräch sein, den Enkeln künftig ehrwürdige Sage.
Über den Trümmern weht die schwarze Fahne der Trauer.
Aber dereinst, wenn eure Male bemoost und verwittert,
Möge Lebendiges neu erwachsen und, wie auch gestaltet,
Unseren heimischen Boden bestreun mit goldenen Früchten.