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Am 23. Sonntag nach Trinitatis, am
30. Oktober 2005 hält der Predigttext dem Reich der Welt das Reich
Gottes entgegen. Ralf-Andreas Gmelin verfolgt diesen Gedanken:
Hass und Verfolgung stehen im Mittelpunkt eines Abschnitts über
die Zukunft des Christentums, den uns das Johannesevangelium mitteilt:
Joh
15,18-21: 18 Der Haß der Welt
Wenn euch die Welt haßt, so
wißt,
daß sie mich vor euch
gehaßt hat.
Wäret ihr von der Welt,
so hätte die Welt das ihre lieb.
Weil ihr aber nicht von der Welt
seid,
sondern ich euch aus der Welt
erwählt habe, darum haßt euch die Welt.
Gedenkt an das Wort, das ich euch
gesagt habe: Der Knecht ist nicht größer als sein Herr.
Haben sie mich verfolgt,
so werden sie euch auch verfolgen;
haben sie mein Wort gehalten,
so werden sie eures auch halten.
Aber das alles werden sie euch tun
um meines Namens willen;
denn sie kennen den nicht,
der mich gesandt hat.
Albrecht Ritschl war im 19.
Jahrhundert ein bekannter Göttinger Theologieprofessor und in
manchen frommen Kreisen ziemlich verhasst. Dazu gehörten die noch
heute existierenden Herrmannsburger Christen, in der deren
Blättchen einmal zu lesen war, dass man zu Gott beten müsse,
die Hannover’sche Landeskirche von Albrecht
Ritschl zu befreien. Als Albrecht
Ritschl eines Tages eine Herzattacke erlitt, entschuldigte er
sich bei einem zufällig anwesenden Besucher mit einem matten
Lächeln: „Jetzt beten sie wieder in Hermannsburg.“
Liebe Gottesdienstgemeinde,
in unseren Gebeten kommt zum Ausdruck,
wie sehr wir in dieser irdischen Welt leben. Wir beten kaum um das
Reich Gottes, sondern, weil wir mitten in unserer Welt stecken und oft
auch, weil uns hier da Wasser bis zum Hals steht. Schüler beten
darum, dass Gott ihrer Klassenarbeit zum Erfolg verhilft, Patienten
bitten darum, dass der Arzt ihnen eine beruhigende Diagnose mitteilt,
Eheleute beten um den Bestand ihrer Ehe, Mitarbeiter beten darum, dass
ihr Arbeitsplatz nicht von einer Entlassungswelle mitgerissen wird. Wir
können uns vorstellen, welche Gebete die Menschen sprechen, deren
Wohnung von Hurrikans oder Erdebeben heimgesucht werden. Und hier reiht
sich auch das Gebet der Hermannsburger Christen ein, die einen
Theologen fortbeten wollen, weil seine Ansicht ihnen verhasst ist. In
dem, was wir vor Gott bringen, tragen wir unsere Sicht auf unsere Welt
vor Gott. Und wir können damit auch wahrnehmen, wie sehr wir
eingebunden sind in das Reich unserer irdischen Welt.
Die Bibel warnt uns davor, dass wir uns von unserer irdischen Welt
gleichsam verschlingen lassen. Erinnern Sie sich an die Lesung aus dem
Philipperbrief?
„Denn viele leben so, …
sie sind die Feinde des Kreuzes
Christi.
Ihr Ende ist die Verdammnis,
ihr Gott ist der Bauch,
und ihre Ehre ist in ihrer Schande;
sie sind irdisch gesinnt.
Unser Bürgerrecht aber ist im
Himmel;
woher wir auch erwarten den Heiland,
den Herrn Jesus Christus…“
Die Alltagswelt und die Welt des Glaubens sind hier zwei klar
unterscheidbare und feindliche Welten. Wer sich an das Kreuz Christi
hält, wer zum Himmel Gottes gehören möchte, wer auf die
Erlösung durch Jesus Christus wartet, der darf sich nicht um
seinen Bauch drehen, der darf der Erde nicht seinen eigenen Stempel
aufdrücken und nicht alles auf seine irdischen Interessen setzen.
Dass hier, mitten im geschäftigen
Treiben der Welt, eine unterscheidbare Welt Gottes wächst, das ist
eine alte Vorstellung der Christenheit, die in dem Senfkorn, von dem
Jesus sprach, den Samen für ein gewaltig wachsendes Reich Gottes
sehen. Wir verdanken auch die Kirchen dieser Vorstellung: Kirchbauten
sollten ein sichtbares und spürbares Zeichen von dem wachsenden
Reich Gottes sein. Ein Stück Himmel auf Erden, ein bisschen neues
Paradies, nachdem der Mensch aus dem Garten Eden vertrieben worden war.
Worum es bei dieser Vorstellung von zwei entgegengestellten Welten
geht, trägt einen guten alten – und heute höchst unbeliebten
Namen: Es geht um „Sünde“.
Martin Luther hat unser
menschliches Sündersein mit einem Bild benannt, das lateinisch
lautet: „incurvatus in se ipsum“; der Mensch ist „in sich selbst
verkrümmt“. Wenn man sich diese Lage körperlich vorstellen
will, dann ähnelt sie dem Uroboros, der mythischen Schlange, die
sich selbst in den Schwanz beißt. Der Mensch, der von der
irdischen Welt gefangen ist und versucht, die Probleme der Erde zu
lösen, gleicht in dieser Ansicht diesem Fabeltier, das dort
anfängt, wo es aufhört; und damit hält es uns auch die
unendliche Fortdauer eines vergeblichen Bemühens vor Augen.
Der Mensch, „eingekrümmt in sich
selbst", hat auch eine in sich selbst verkrümmte Vernunft. Weil er
nicht los kommt von sich selbst, überhebt er sich. Er wird
arrogant gegen Gott und gegen seine Mitmenschen: ER möchte nicht
mit der Vorstellung leben, dass über ihm Gott ist, sondern er will
selbst Gott sein. Und als solcher Gernegroß tritt er dann seinen
Mitmenschen entgegen: Von hier beginnt die Sünde in Schuld
umzuschlagen, wenn sich die Arroganz des verkrümmten Menschen in
Lieblosigkeit, Hass, Neid und Eitelkeit äußert.
Was für den einzelnen Menschen gilt, lässt sich auch für
die Menschheitsgeschichte beschreiben: Nach Ansicht von Siegmund Freud hat die Menschheit
drei große „Demütigungen" erlebt, die ihr Selbstbewusstsein
verändert haben.
Als Nikolaus Kopernikus mit seinem heliozentrischen Weltbild die Erde aus dem Mittelpunkt der Welt holte, stieß er die Menschen in einen kalten finsteren Weltraum, der keinen Gipfelpunkt mehr hat, von dem Gott mit mildem Blick herabsieht. Jetzt gibt es weder Oben noch Unten und die Unendlichkeit weht uns Menschen kalt vom Nachthimmel an.
Die zweite Veränderung des
menschlichen Selbstbewusstseins hatte viele fürchterliche Folgen: Charles Darwin entdeckte bei seinem
Besuch der Galapagosinseln eine neue Vorstellung, wie die verschiedenen
Arten in der Natur in einem genetischen Zusammenhang stehen. Der
Mensch konnte daraus den Schluss ziehen, dass auch er nur ein Ergebnis
zufälliger Mutationen ist. Bis heute hat mancher Biologe keinen
Platz für einen liebevoll ins Leben rufenden Schöpfergott.
Der Darwin’sche „Kampf ums Dasein“, sein „struggle for life“ hat
jedenfalls dem letzten Jahrhundert zwei der barbarischsten Kriege der
Menschheitsgeschichte serviert.
Als letzte Demütigung des Menschen sah Sigmund Freud seine eigene
Interpretation der menschlichen Seele als ein mehr oder weniger
mechanisches Spiel von Ich, Es und Über-Ich.
Der Ort des Menschen in seinem Selbstbewusstsein und in seiner Welt ist
durch diese drei Erschütterungen brüchig und ungemütlich
geworden. Zugleich haben diese Erschütterungen den Menschen aber
auch zu wissenschaftlichen und technischen Höchstleistungen
herausgefordert, die das Angesicht der Erde mehr verändert haben,
als es Menschen in zweitausend Jahren vorher vermocht haben.
Je mehr Menschen sich gegen ihre Entzauberung gewehrt haben, desto mehr
haben sie sich hineingeflochten in das Räderwerk einer von
Menschenhand umgestalteten Welt. Oder mit Luthers Bild ausgedrückt: Der
Mensch hat sich mehr und mehr eingekrümmt in das Gespinst seiner
selbst gestalteten Welt, die damit mehr und mehr auch Ausdruck ist
seiner Sündhaftigkeit. Die natürliche Welt war dem Menschen
in mancher Hinsicht feindlich gegenüber gestellt. Aber für
diese Feindschaft hat er keine Verantwortung, für die
natürliche Welt trifft den Menschen keine Schuld: Den in der Natur
lebenden Menschen trifft ein Hurrikan, gefährdet oder tötet
ihn. Da trifft die Natur unschuldige Menschen. - Wenn der Hurrikan
über Mexiko oder Florida wegzieht, dann trifft er Menschen, die in
einer von Menschenhand gebauten Umgebung wohnen. Für die Folgen
dieser Verheerungen ist nicht allein der Sturmwind schuld, sondern auch
Generationen von Menschen, die diese menschlichen Siedlungen errichtet
haben. Nicht einmal die Entstehung des Hurrikans ist ganz sicher davor,
dass wir als Menschen bekennen müssen: Wir sind an der
Erwärmung der Ozeane schuld und damit auch an diesen gewaltigen
Stürmen.
Es ist kein Wunder, dass wir uns aus dem Geflecht unserer irdischen
Welt kaum noch zu lösen vermögen, wir tragen mit dem Werk
unserer Hände auch eine ungeheure Verantwortung. Und wir Menschen
sind ihr oft genug nicht gerecht geworden. Wir dürfen Gott bitten,
dass er uns bei diesen Aufgaben beisteht, wir dürfen ihn um das
bitten, was uns in unserem irdischen Alltag umtreibt und belastet. Aber
wir sollen den Blick heben. Wir sollen der Schlange den Schwanz aus dem
Mund ziehen, damit sie den Kopf hebt und das sieht, was sich nicht
immer im Hamsterkäfig des Ewiggleichen dreht.
Das Kreuz ist ein Zeichen aus einer anderen Welt, wo der Tod einen
Anfang bedeutet. Gottes Reich ist eine andere Welt und ER ruft uns in
diese Welt. Nach diesem Reich Gottes und damit nach den Regeln des
Lebens hätten wir unsere Welt formen sollen, aber unsere selbst
geschaffene Welt hat vielmehr uns geformt nicht nach Gottes Ebenbild,
sondern nach dem Bild des in sich verkrümmten Sünders.
Solange wir uns im Hamsterrad der Welt bewegen, werden wir Gottes
Einladung in SEIN Reich nicht hören. Die Erkenntnis, dass wir
Menschen uns gern in dieses Hamsterrad spannen lassen, dass wir uns
leicht einigeln in die Existenz einer Schlange, die sich in den Schwanz
beißt, sie hat die Gestalt unserer Kirche geformt. Sie hat
für Kirchbauten gesorgt und sie hat dafür gesorgt, dass
Gottesdienste immer wieder Gottes Gegenwelt hier und jetzt mittendrin
im Getriebe dieser Zeit lebendig werden lassen.
Willkommen im Reich Gottes!
Lasst es uns hinaustragen in unsere Alltagswelt.
Gott, danke für DEIN Reich, das DU uns geschickt hast. Lass uns
danach streben, es zu erkennen und in ihm zu leben, denn dein
Friede, welcher höher ist denn alle Vernunft, bewahre unsre Herzen
und Sinne in Christo, Jesu, Amen.