Am 25. April 2004 hielt die
Festpredigt zur Eröffnung des Ersten Bauabschnitts der Mainzer
Professor für praktische Theologie, Dr. Stephan Weyer-Menkhoff.
Seine Predigt ging vom Johannesevangelium aus (Jo. 10,1-11).
Werte Gemeinde der Ringkirche,
Glauben und Kirchengebäude hängen enger zusammen als gedacht.
Der Glaube ist nicht etwas rein Innerliches, und die Kirche ist nicht
etwas rein Äußeres. Die Außenfassade der Ringkirche
muss saniert werden, der Bauabschnitt soll heute eröffnet werden
am 2. Sonntag nach Ostern mit dem Namen Misericordias Domini,
Barmherzigkeit des Herrn.
Aus dem Evangelium steht die Figur des guten Hirten vor Augen: „Ich bin
der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für die
Schafe.“ Zur Figur des Hirten gehört im Hintergrund der
Schafstall. Sind wir damit bei der Ringkirche? – Nicht ganz. Zwar
ist Schafstall immer noch besser als Saustall, aber der Vergleich hinkt
trotzdem: Sind Kirchenbesucher etwa Schafe? Das Gleichnis aus dem
Evangelium vom guten Hirten zieht jedoch nicht einen zweifelhaften
Vergleich, sondern umkreist einen handfesten Gegenstand: die Tür.
„Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer nicht zur Tür hineingeht
in den Schafstall, sondern steigt anderswo hinein, der ist ein Dieb und
ein Räuber.“ Wer nicht durch die sich öffnende Tür
hineinkommt, der ist ein Einbrecher. Er dringt ins Verschlossene ein,
er raubt es aus; aber es wird niemals sein Eigenes: „Einem Fremden
folgen die Schafe nicht nach, sondern fliehen vor ihm; denn sie kennen
die Stimme der Fremden nicht.“
Nur die Tür schafft einen Übergang vom Eigenen zum Fremden.
Durch die Tür geht eins ins andere über. Die Tür schafft
solchen Übergang, weil sie zugleich innen und außen ist. Die
Tür verbindet zwei Extreme. Sie ist auf der einen Seite ganz innen
und auf der anderen Seite ganz außen. Die Tür ist also weder
etwas rein Inneres noch etwas rein Äußeres, sondern beides
zusammen. Das verwirrt. Der Übergang ist innen und zugleich ist er
außen. Aber es entsteht auch keine neue dritte Größe
einer Vermischung von innen und außen. Vielmehr hält die
Tür beide Seiten strikt auseinander. Aber indem die
Gegensätze von innen und außen an der Tür
aufeinandertreffen und nicht vermischt werden, entsteht der Eingang von
innen nach außen und umgekehrt der Ausgang von außen nach
innen.
Der Übergang wandelt Äußeres in Inneres, vermischt sie
aber nicht. Im Hinausgehen wandelt der Übergang Inneres in
Äußeres, aber er hebt innen und außen nicht auf. Das
macht den Übergang so schwer fassbar. Er ist weder das eine, das
Außen, noch das andere, das Innen, noch aber ist er das dritte,
die Synthese aus beiden. Für eine rationale und digitale Kultur
ist der Übergang ein gemiedenes Phänomen. Achten Sie einmal
darauf, wie sehr die Dämmerung, ein anderes
Übergangsphänomen, verhindert wird. Nicht nur im Kaufhaus
oder im Büro, wo immer das elektrische Licht leuchtet, sondern
auch zu Hause und sogar in der Kirche wird schnell und reichlich
künstliches Licht zur Vertreibung von Dämmerung
eingeschaltet. Dabei sind manche Kirchen absichtlich so gebaut, dass in
ihnen Dämmerung herrscht. Übergänge werden nicht gewollt
in einer Kultur, die nur geschlossene Zustände und fertige
Produkte kennt. Das Attraktive an den Fertigessen ist, dass sie keinen
langen Übergang der Zubereitung und des Kochens haben. Oder denken
Sie an Beziehungen. Zwei verstehen sich und ziehen ganz schnell
zusammen; zwei verstehen sich nicht mehr, und ebenso schnell ziehen sie
auseinander. Übergänge erscheinen als lästig,
unnötig und mühselig.
„Wahrlich, wahrlich, ich sage euch“ sagt Jesus im Evangelium: „Wer
nicht zur Tür hineingeht in den Schafstall, sondern steigt
anderswo hinein, der ist ein Dieb und ein Räuber. … Einem Fremden
aber folgen die Schafe nicht, sondern fliehen vor ihm; denn sie kennen
die Stimme der Fremden nicht“.
Wo ohne Übergang gehandelt wird, da ist nur Raub. Was ohne
Übergang zu haben ist, bleibt auf Dauer verschlossen. Wer den
Konsum steigert, der wird trotzdem und gerade deswegen nicht satt.
Die Dinge verschließen sich gegen den Verbraucher. Wer sich
selbst ausbeutet, kommt dennoch und gerade deswegen nicht zum Ziel. Wer
nicht durch die Tür geht, dem bleibt das Gesuchte verschlossen.
Das Gesuchte bleibt fern, auch wenn es mit beiden Händen ergriffen
wird.
„Dies Gleichnis sagte Jesus zu ihnen; sie verstanden aber nicht, was er
ihnen damit sagte. Da sprach Jesus wieder: Wahrlich, wahrlich, ich sage
euch: Ich bin die Tür zu den Schafen. Alle, die vor mir gekommen
sind, die sind Diebe und Räuber; aber die Schafe haben ihnen nicht
gehorcht. Ich bin die Tür“.
Das Evangelium nach Ostern heißt: „Ich bin die Tür“. Das
Osterevangelium zeigt nicht nur den einen, den siegreich auferstandenen
Christus; das Osterevangelium erinnert aber auch nicht nur an den
anderen, den gottverlassen sterbenden Jesus, dessen gerechte Sache nun
von den Gläubigen weiterzuführen wäre. Das Evangelium am
zweiten Sonntag nach Ostern handelt dagegen von der Tür. Als
Tür ist Jesus Christus der Eine und zugleich der Andere, ist er
der Auferstandene und zugleich der Gekreuzigte, ist er ganz
draußen aus dem Leben und zugleich ganz drinnen im
unvergänglichen Glück und Gelingen. Als Tür bringt er
nicht ein Mittelding hervor, einen Zustand gemischt aus einigem was
gelingt, und anderem, was eher misslingt. Die Tür vermischt
nichts, sondern schafft einen Übergang.
Jesus Christus ist der Übergang. Er ist darum so schwer zu fassen.
Weder lässt sich Jesus Christus auf eine historische Person
reduzieren, noch in einem mythischen Archetypos aufheben. Weder
lässt er sich als gläubige Überzeugung verinnerlichen,
noch lässt er sich als Handlungsweise von Gerechtigkeit, Frieden
und Bewahrung der Schöpfung veräußerlichen. Als
Übergang bleibt Jesus Christus unfassbar; und wo einer ihn erfasst
hat, da hat er genau den nicht erfasst, der im Evangelium nach Ostern
sagt: „Ich bin die Tür“.
Wenn für das Osterevangelium Glauben und Handeln ausscheiden,
bleibt nur noch die Tür, die Kirchentür der Ringkirche. Das
Kirchengebäude wird zum Zeugnis des Osterevangeliums, wie es weder
durch fromme Innerlichkeit der Gläubigen noch durch
äußere Aktivitäten der Gemeinde dargestellt werden
kann. Die Kirche aus Steinen ist mehr als der Glaube und die Tat
zusammen.
Die Kirche ist primär und prinzipiell etwas anderes als nur der
Raum für die Gemeinde. Die Kirche ist kein Gemeindehaus. Das
Gemeindehaus hat nämlich keinen Übergang: Da gehört man
entweder dazu, oder aber man ist draußen. Die Kirche dagegen hat
viele Übergänge. So ist auch die zu sanierende Fassade ein
Übergang: Wer sie sieht, gehört nicht unbedingt zur Gemeinde;
wer sie sieht, ist noch nicht drinnen; aber wer sie mitten in seinen
Alltagsgeschäften sieht, der hat plötzlich einen
Übergang auf seinen Wegen, dessen zum Abend führende Wege
werden österlich. Wer die Kirche sieht, der muss nicht glauben,
der muss nicht handeln, der kommt in einen Übergang: Seine
normalen, zum Abend führenden Wege werden österlich. Das
Evangelium heißt: „Ich bin die Tür; wenn jemand durch mich
hineingeht, wird er selig werden und wird ein- und ausgehen und Weide
finden. Ein Dieb kommt nur, um zu stehlen, zu schlachten und
umzubringen. Ich bin gekommen, damit sie das Leben und volle
Genüge haben sollen.“