Am Sonntag Judika, den 28. März
2004, ruft die Predigt von Ralf-Andreas Gmelin zur Nachfolge und fragt
nach der Wirkung von Mel Gibsons Film auf diese Aufforderung aus dem
Hebräerbrief (5, 7-9):
Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und dem HERRn
Jesus Christus.
Der Predigttext aus dem Hebräerbrief
spricht im 5. Kapitel davon, dass es ein ungewöhnlicher Weg
ist, den Jesus Christus gegangen ist, um Hoffnung auf ewiges Heil zu
wecken (Hebr 5,7-9):
Und Jesus, der Hohepriester,
die Brücke zwischen Mensch und
Gott ,
hat in den Tagen seines irdischen
Lebens
Bitten und Flehen mit lautem Schreien
und mit Tränen dem dargebracht,
der ihn vom Tod erretten konnte;
und er ist auch erhört worden,
weil er Gott in Ehren hielt.
So hat er, obwohl er Gottes Sohn war,
doch an dem, was er litt, Gehorsam
gelernt.
Und als er vollendet war,
ist er für alle, die ihm
gehorsam sind,
der Urheber des ewigen Heils geworden.
Liebe Gottesdienstgemeinde,
Jesus hat Gehorsam gelernt und alle, die ihm gehorsam sind, werden
durch ihn Heil finden. Der Hebräerbrief ruft uns dazu auf, Jesus
Christus nachzufolgen.
Heute Morgen möchte ich Sie zuerst in eine Johannespassion
versetzen, in die Aufführung eines der großen Werke Johann
Sebastian Bachs. Diese zweifellos imponierende Verbindung von
Glaubensgewissheit und kompositorischem Genie erzählt
beeindruckend die Geschichte von der Verurteilung Jesu bis er zuletzt
ans Kreuz geschlagen wird. Nachdem Pilatus die Tafel ans Kreuz
angebracht hat und sich die Umstehenden vergeblich beschwert haben,
dass Jesus doch gar nicht wirklich der Juden König sei, erklingt
in fast schmerzhafter Schönheit ein Choral:
„In meines Herzens Grunde
Dein Nam’ und Kreuz allein
Funkelt all Zeit und Stunde,
drauf kann ich fröhlich sein.
Erschein mir in dem Bilde
Zu Trost in meiner Not,
Wie Du, Herr Christ, so milde,
dich hast geblut’t zu Tod.“
Wäre die Johannespassion nicht von Johann Sebastian Bach,
sondern von Mel Gibson, hätte man diesen Choral in den letzten
Wochen bestimmt als widerwärtige Geschmacklosigkeit enttarnt: Tief
in mir funkelt immerzu der Name Jesu und der Galgen, an dem er ermordet
wird, das Kreuz. Das ist schon schlimm genug, aber dieses
mörderische Bild, soll mich auch noch „fröhlich“ machen. Und
jetzt am Ende des Verses würde die Stimme der Kritiker sich wohl
überschlagen vor Abscheu:
„Erschein mir in dem Bilde
Zu Trost in meiner Not,
Wie Du, Herr Christ, so milde,
dich hast geblut’t zu Tod.“
Das Bild von dem zu Tode blutenden Christus soll mich trösten.
Liebe Gottesdienstgemeinde,
unsere nächste Station ist das Kinopolis bei Frankfurt, wo die
Kirchenzeitung zu einer Vorabvorführung von Mel Gibsons „Passion
Christi“ eingeladen hat. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, wenn
sie ins Kino gehen. Wenn ich im Kinosessel sitze und er Film geht los,
dann befinde ich mich für die Dauer des Filmes irgendwo da oben in
der Handlung auf der Leinwand. So ging es mir auch diesmal: Ich erlebe
die Gethsemanegeschichte, wo der Teufel sich an Jesus heranschleicht,
ich erlebe die Verhaftung, Verurteilung, die Geißelung und
Kreuzigung und dazwischen die Erinnerungen des geschundenen Menschen an
glücklichere Tage in Galiläa. Ich erlebe, wie die Umwelt Jesu
aramäisch spricht, höre die lateinischen Befehle der
römischen Legionäre, leide, schwitze und zucke unter den
Misshandlungen mit.
Dann ist im Film Ostern, er hört auf - und das Licht geht
an.Schnell sind ein paar Stehtischchen hereingebracht und dann werden
Stellungsnahmen abgegeben: Unter anderen behauptet ein freundlicher,
kultivierter Pfarrerkollege, der Passionsfilm erinnere ihn an
Kettensägen-Massakerfilme. Die Passion solle nicht als Spatterfilm
dargestellt werden.
Ich habe die Diskussion rasch verlassen. Ich kann nicht über eine
Stunde mit Jesus Christus am Kreuz leiden, mich irgendwo mitten in der
Handlung befinden und mir dann anhören, das ganze sei ein
geschmackloser Kino-Irrtum. Und ehrlich gesagt, erinnert mich die
Diskussion um Mel Gibsons Film an eine Romanszene aus Friedrich
Hölderlins Diotima, in der im Helden der unhörbare Aufschrei
emporzuckt: „Das sind Betrüger!“ Ich weiß nicht wie viele
Kolleginnen und Kollegen ihre Freizeit damit zubringen,
Kettensägen-Filme zu sehen. Ich weiß aber, dass ich so einem
Film niemals sehen möchte, und dass der Passionsfilm von Mel
Gibson nicht eine einzige Kettensäge gezeigt hat. Wem da die
Erinnerung an Kettensägen kommt – und nicht die Erinnerung an die
Passionsgeschichten von Matthäus und Johannes, der muss die
Kettensäge wohl in seinem Inneren schon in den Film mitgebracht
haben.
Ein kurzer Blick zurück in die Johannespassion von Johann
Sebastian Bach: „Erwäge“, singt da eine eindringliche Tenor-Arie,
„erwäge, wie sein blutgefärbter Rücken in allen
Stücken, dem Himmel gleiche, dem Himmel gleiche geht. …“ Der
Himmel Gottes wird hier mit dem zerfetzten Rücken Jesu verglichen.
Im Gegensatz zu Mel Gibsons Film, der diesen blutzerfetzten Rücken
in Großaufnahme zeigt, und dafür heftig gescholten wird,
gibt es nur selten Widerstand gegen diese Bach-Arie. Und in der
englischen Übersetzung heißt es: „Imagine, That His
bloodbespattered body is part of Heaven“. Hier ist es, das englische
Wort „spatter“ spritzen, das eine ganze Horrofilm-Kategorie benennt.
Die Geschichte von dem „bloodbespattered“ Christus soll nicht als
„Spatter-movie“ dargestellt werden.
Also irgendwie netter, höflicher, zeitgeistkonformer? Die
Evangelien sind da weniger zimperlich! Und damit auch wohl näher
an der Wahrheit dran. Auch die Zeit Johann Sebastian Bachs kannte noch
die öffentlichen Hinrichtungen: Wenn das Blutgerüst irgendwo
aufgestellt wurde, drängte sich eine Volksmasse von Neugierigen
heran und bis zum Anfang des vorletzten Jahrhunderts kannte fast jeder
Mensch das Szenario, wenn ein verurteilter Delinquent unter Gejohle und
unter Beschimpfungen seinen letzten Weg ging. Wie es im Volkslied
heißt: „Der eine hat’s Bedauern, der andre gönnt es mir!“
Bischof Wolfgang Huber von der evangelischen Seite, Kardinal Lehmann
aus Mainz für die römisch-katholische Kirche haben zusammen
mit Paul Spiegel vom Zentralrat der deutschen Juden haben eine
gemeinsame Stellungnahme verfasst, die nachdenklich macht. Es
heißt darin, dass der Film die Gefahr in sich berge, „das Leben
Jesu auf die letzten zwölf Stunden zu reduzieren“. In der Tat eine
schreckliche Gefahr, der auch schon Bachs Matthäuspassion und
Johannespassion erlegen sind. Wir Theologen haben im Studium des Neuen
Testaments gelernt, dass die Evangelien „Passionsberichte mit
verlängerter Einleitung“ seien. Paul Spiegel kann dies als Jude
mit Recht verurteilen. Aber welche Haltung bringen Kardinal Lehmann und
Bischof Huber im Hinblick auf die Evangelien zum Ausdruck? Stimmt die
Pressestimme, dass sich die „steuerfinanzierte Amtskirche einer
säkularisierten Gesellschaft“ lieber der veröffentlichten
Meinung anpasst, als dass sie zu den Scheußlichkeiten steht, die
wir vom Leiden und Sterben Jesu Christi lesen müssen?
Liebe Gottesdienstgemeinde,
auch in Wiesbaden hat es fast einen Tumult gegeben, als Mel Gibsons
Film einem interessierten Publikum gezeigt wurde. Auf der einen Seite
die, die seit Wochen in Zeitungen und anderen Medien verfolgt haben,
dass sie diesen Film ganz schrecklich finden müssen und warum. Und
auf der anderen Seite die schlichten Menschen, die einen Film sehen, in
dem Jesus Christus zu Tode geschunden wird. Und denen vollkommen
gleichgültig ist, ob dieser Film ein Meisterwerk ist oder nicht,
weil der, der hier dargestellt wird, wichtiger ist, als cineastisches
Gerede. An dem Film von Mel Gibson scheiden sich Geister. Ich
möchte sicher nicht, dass dieser Film in den Rang eines Kunstwerks
befördert wird, wo ich die großen Bach-Passionen ansiedeln
würde. Aber ich finde es auffällig, dass der Film genau da
Kritik abbekommt, wo er sich am meisten bemüht, den
Evangelientexten zu folgen.
Am Ende der Johannespassion steht auch wieder ein Choral, die dritte
Strophe eines Liedes von dem fränkischen Pfarrer Martin Schalling
aus dem Jahr 1569, das noch heute im Gesangbuch steht (EG 397):
„Ach Herr, lass dein lieb Engelein
Am letzten End die Seele mein
In Abrahams Schoß tragen.
Den Leib in seim Schlafkämmerlein
Gar sanft ohn’ ein’ge Qual und Pein,
Ruh’n bis am Jüngsten Tage!
Alsdann vom Tod erwecke mich,
dass meine Augen sehen Dich
In aller Freud o Gottes Sohn,
mein Heiland und Genadenthron!
Herr Jesu Christ, erhöre mich,
ich will dich preisen ewiglich.“
Am Ende der Bachpassion steht die Verbindung zum eigenen Leben: Es geht
nicht um die mehr oder weniger kunstvolle Gestaltung einer alten,
längst vergangenen Geschichte, es geht um das, was sich in deinem
Leben jetzt und in Zukunft davon niederschlägt. Wie Jesus im
Matthäusevangelium zu dem Hauptmann sagt: „Geh hin; dir geschehe,
wie du geglaubt hast.“
Die Filmkritik an dem Passionsfilm von Mel Gibson hat vor lauter Eifer,
den Film und seinen Produzenten niederzumachen, völlig
übersehen, dass der Film die Geschichte von der Passion Jesu
Christi erzählt. Den meisten Filmbetrachtern sind
feuilletonistische Eitelkeiten angesichts des Filminhalts ziemlich
gleichgültig.
Den einzigen nachhaltigen Schaden den Mel Gibsons Passionsfilm
hinterlässt trifft die Filmkritik. Sie muss erkennen, dass all ihr
wochenlanges Schreiben, Reden und Schimpfen gegen den Gehalt einer
Geschichte nichts auszurichten vermag, die unserem Zeitgeist in der Tat
völlig entgegensteht: Das Leiden und Sterben von Jesus Christus
erweist sich auch diesmal wieder mächtiger als der Jahrmarkt
zeitangepasster Bedenklichkeiten, auch wenn auf diesem Jahrmarkt
marktschreierisch Pfarrer, Oberkirchenräte, Bischöfe und
Kardinäle stehen, um sich von dem blutigen und hässlichen
Passionsgeschehen zu distanzieren.
Nachdem der Film in den Vereinigten Staaten wochenlang der
meistgesehene Film war, hat er auch im deutschen Kino großen
Erfolg. Und das bestimmt nicht bei denen, die sonst nur
Kettensägen-Massaker ansehen.
Dass der Eine den Mut hat, Leid und Tod auf sich zu nehmen – und wenn
die Welt voll Teufel wär’ – das ist das Vorbild, dem die Nachfolge
von Christen gilt. Um Christen in die Nachfolge zu rufen, braucht es
keine Filme. Aber auch hässliche Filme können dazu beitragen,
uns für diese Nachfolge Mut zu machen: Uns geschehe, wie wir
glauben.
Gott, schenke Du uns den Glauben und den Mut, DIR nachzufolgen, denn
dein Friede, welcher höher ist denn alle Vernunft, bewahre
unsre Herzen und Sinne in Christo, Jesu, Amen.
Liebe Gottesdienstgemeinde,
vielleicht ist es Ihnen aufgefallen: Auch das Lied „O Haupt voll
Blut und Wunden“ von Paul Gerhardt, mit dessen ersten Strophen wir vor
der Predigt begonnen haben, verkürzt das Leben Jesu auf die
Stunden seines Leidens und Sterbens. Dürften wir es nach den
neuesten kirchenpolitischen Kriterien darum nicht mehr singen?
Für mich kommt in diesem Lied das Geheimnis des christlichen
Glaubens am intensivsten zum Ausdruck. Ich möchte mit Ihnen von
diesem Lied 85 die Strophen 4, 5 und 9 singen, die uns fest mit dem
Gekreuzigten verbinden: „Nun, was Du, Herr, erduldet, ist alles meine
Last…“
P 2: 85, 4,5+9