Am Sonntag Sexagesimae, den 15.
Februar 2004 nahm die Predigt von Ralf-Andreas Gmelin ihren Ausgang bei
den Ratschlägen des Paulus, die er der Gemeinde in Rom erteilt hat:
Ein Brief von Paulus an die christliche Gemeinde in Rom beschreibt, wie
das Leben in der christlichen Gemeinde aussehen soll. Paulus schreibt
im 12. Kapitel des Römerbriefs (Röm 12,9-16):
Die Liebe sei ohne Falsch.
Hasst das Böse, hängt dem
Guten an.
Die brüderliche Liebe
untereinander sei herzlich. Einer komme dem andern mit Ehrerbietung
zuvor.
Seid nicht träge in dem, was ihr
tun sollt.
Seid brennend im Geist.
Dient dem Herrn.
Seid fröhlich in Hoffnung,
geduldig in Trübsal,
beharrlich im Gebet.
Nehmt euch der Nöte der Heiligen
an.
Übt Gastfreundschaft.
Segnet, die euch verfolgen;
segnet, und flucht nicht.
Freut euch mit den Fröhlichen
und weint mit den Weinenden.
Seid eines Sinnes untereinander.
Trachtet nicht nach hohen Dingen,
sondern haltet euch herunter zu den
geringen.
Haltet euch nicht selbst für
klug.
HERR, tu meine Lippen auf, dass mein Mund DEINEN Ruhm
verkündige, Amen.
Liebe Gottesdienstgemeinde,
das klingt wie eine Kritik des 21. Jahrhunderts, eine Kritik der
Weltraumabenteuer der gegenwärtigen Menschheit und eine Kritik der
technischen Dimension unserer Gegenwart:
„Trachtet nicht nach hohen Dingen,
sondern haltet euch herunter zu den
geringen.
Haltet euch nicht selbst für
klug.“
Unter mir, in der Sakristei hängt ein großes Bild aus dem
Jahr 1894. Auf der Leinwand ist ein Goldgrund aufgetragen, auf dem in
altertümlichen Lettern der Satz zu lesen ist: „Denn ich hielt es
für richtig, unter euch nichts zu wissen als allein Jesus
Christus, den Gekreuzigten.“ – In dem altertümlichen Bibeldeutsch
der damaligen Zeit heißt es wörtlich: „Denn ich hielt mich
nicht dafür, dass ich etwas wüsste unter Euch, ohne allein
Jesum Christum den Gekreuzigten.“
Es ist der Predigttext von einer der beiden ersten Predigten, die in
dieser Kirche gehalten wurden. Wir dürfen annehmen, dass dieser
Text vermutlich von dem damaligen Pfarrer, Lothar Friedrich, ausgewählt
wurde, um seiner Zeit zu sagen: Auch stolze Zeiten, die ein so
großartiges Bauwerk wie diese Ringkirche hervorbringen,
müssen sich damit bescheiden, dass nur Jesus Christus der
Gekreuzigte zählt und nicht Menschenwitz und –kunst, nicht
handwerkliche Präzision und visionäre Neuerungen.
Aber dieser Satz stammt ja nicht aus dem Jahr 1894, sondern aus einem
alten Brief, den Paulus an die Christen in der Hafenstadt Korinth
schrieb. In diesem Brief heißt es (1.Kor 2,1-5):
„Auch ich, liebe Brüder,
als ich zu euch kam,
kam ich nicht mit hohen Worten
und hoher Weisheit,
euch das Geheimnis Gottes zu
verkündigen.
Denn ich hielt es für richtig,
unter euch nichts zu wissen
als allein Jesus Christus, den
Gekreuzigten.
Und ich war bei euch in Schwachheit
und in Furcht und mit großem
Zittern;
und mein Wort
und meine Predigt
geschahen nicht mit überredenden
Worten menschlicher Weisheit,
sondern in Erweisung des Geistes und
der Kraft,
damit euer Glaube nicht stehe auf
Menschenweisheit,
sondern auf Gottes Kraft.“
Hohe Worte, hohe Weisheit, hinter vorgehaltener Hand raffinierte
Geheimnisse raunen, die wenig mit Gott zu tun haben, aber viel mit der
Arroganz des Wissenden: So schrecklich anders scheinen die Menschen zur
Zeit des Paulus - so um 60 nach Christus - nicht gewesen zu sein.
Paulus muss darauf hinweisen, dass es auf Gottes Kraft ankommt und
nicht auf perfekt gestylte Redekunst.
Lothar Friedrich ermahnt die
nagelneue Ringkirchengemeinde 1894, dass es nicht auf menschliche
Raffinesse, sondern auf den Gekreuzigten ankommt.
Als ich über eine Predigt für diesen Sonntag nachdachte, war
in mir der Wunsch wach, über den Jubilaren dieser Tage zu
sprechen: Immanuel Kant ist
am 12. Februar vor 200 Jahren gestorben. Ein reizvoller Anlass
über das zu predigen, was die Aufklärung gewollt hat und was
aus ihr geworden ist; um darüber nachzudenken, wie sich der
christliche Glaube mit dem philosophischen Denken verträgt. Die
Aufklärung, die von diesem Sohn eines pietistischen Handwerkers
aus Königsberg so viel empfangen hat.
Aber nachdem ich dann den Predigttext gelesen hatte, war Kant in die
Schublade zurückgerutscht: Wie soll man über den Philosophen
reden, wenn nicht mit den Worten überredender Weisheit, als einer,
der sich selbst für klug hält?
Nein: Die Konzentration auf Jesus Christus ist von dem heutigen
Predigttext gefordert und da ist kein Ausflug in die Philosophie
erlaubt:
„Trachtet nicht nach hohen Dingen,
sondern haltet euch herunter zu den
geringen.
Haltet euch nicht selbst für
klug.“
Dieser Zwang zur Bescheidenheit ist sicherlich immer und zu allen
Zeiten unpopulär. Dieses eine Bild vom gekreuzigten Gott ist
unschön und bedrückend. Dass aber dieses Bild ein Bild der
Liebe ist, das macht es inspirierend.
Wenn Gott das Fürchterliche für Dich auf sich nimmt, dann
geht von dem Bild des gekreuzigten Gottes eine ungeheure Kraft aus, die
stärker ist, als jede Philosophie und stärker als die
Raketentriebwerke, die unser Universum mit Weltraumschrott versorgen.
Paulus versorgt uns mit guten Ratschlägen, wie wir das Kleine
richtig tun können, wie wir unseren begrenzten Beitrag leisten
können, dass nicht alles beim immer Verkehrten bleibt:
„Die Liebe sei ohne Falsch.
Hasst das Böse, hängt dem
Guten an.
Die brüderliche Liebe
untereinander sei herzlich. Einer komme dem andern mit Ehrerbietung
zuvor.
Seid nicht träge in dem, was ihr
tun sollt.
Seid brennend im Geist.
Dient dem Herrn.
Seid fröhlich in Hoffnung,
geduldig in Trübsal,
beharrlich im Gebet.
Nehmt euch der Nöte der Heiligen
an.
Übt Gastfreundschaft.
Segnet, die euch verfolgen;
segnet, und flucht nicht.
Freut euch mit den Fröhlichen
und weint mit den Weinenden.
Seid eines Sinnes untereinander.“
Warum soll ich das tun?
Die Frage der Vernunft bohrt und fragt nach dem Nutzen und den Kosten.
Die Frage der Vernunft verstummt, wenn ihr das Bild des liebenden
Gottes vor Augen steht, der für seine Liebe den Tod am Kreuz auf
sich nimmt.
Darum geht es los mit dem Blick auf das Kreuz.
Darum kommt Christsein eben nicht völlig ohne den Gottesdienst aus: Weil wir
gemeinsam auf das Kreuz schauen und durch diesen Blick Mut zum Guten
bekommen sollen. Den Mut, den uns die Vernunft allein nicht verleihen
will – weil sie immer danach fragt, was es mir nützt.
Immanuel Kant hat gewusst,
dass die Vernunft bohrend fragt, was ich denn davon habe, wenn ich mich
nach dem Guten richte, während mich der Rest der unheiligen Welt
betrügt. Darum hat er eine raffinierte Regel aufgestellt:
„Tue das, wodurch du würdig
wirst, glücklich zu sein.“
Er weiß genau, dass ich durch gutes Handeln nicht automatisch
glücklich werde. Aber er lässt mich danach streben, dass ich
dem Glück würdig bin. Am Ende der philosophischen Vernunft
steht bei Immanuel Kant die
Abrechnung im Jenseits: Weil diese Welt ungerecht ist, und die Guten
nicht belohnt, muss es vernünftigerweise einen Gott geben, der die
wirklich Guten nach dem Tode gerecht behandelt.
Wir müssen dieser schlauen Argumentation des Philosophen nicht
folgen. Uns genügt der Blick auf das Kreuz, an das sich Jesus
Christus schlagen lässt: Aus Liebe.
Gott schenke Du uns den Blick auf DEIN Kreuz,
denn dein Friede, welcher höher ist denn alle Vernunft, bewahre
unsre Herzen und Sinne in Christo, Jesu, Amen.