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Am Vierten Advent 2002 ging die Predigt von Pfarrer Ralf-Andreas Gmelin von dem Lobgesang der Maria aus, der als „Magnifikat“ auch in der Musikgeschichte berühmt geworden ist. Es stammt aus dem Lukasevangelium, 1, 39-56:

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und dem HERRn Jesus Christus.

Ein Geschichte aus dem Lukasevangelium lässt uns eine Geschichte erleben, die vor der Geburt von Jesus Christus spielt. Maria besucht Elisabeth und singt dort ihr berühmtes Loblied, das Magnifikat:
Lk 1,39-56

Maria aber machte sich auf in diesen Tagen und ging eilends in das Gebirge zu einer Stadt in Juda und kam in das Haus des Zacharias und begrüßte Elisabeth. Und es begab sich, als Elisabeth den Gruß Marias hörte, hüpfte das Kind in ihrem Leibe. Und Elisabeth wurde vom heiligen Geist erfüllt und rief laut und sprach: Gepriesen bist du unter den Frauen, und gepriesen ist die Frucht deines Leibes! Und wie geschieht mir das, daß die Mutter meines Herrn zu mir kommt? Denn siehe, als ich die Stimme deines Grußes hörte, hüpfte das Kind vor Freude in meinem Leibe. Und selig bist du, die du geglaubt hast! Denn es wird vollendet werden, was dir gesagt ist von dem Herrn. Und Maria sprach: Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist freut sich Gottes, meines Heilandes; denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen. Siehe, von nun an werden mich seligpreisen alle Kindeskinder. Denn er hat große Dinge an mir getan, der da mächtig ist und dessen Name heilig ist. Und seine Barmherzigkeit währt von Geschlecht zu Geschlecht bei denen, die ihn fürchten. Er übt Gewalt mit seinem Arm und zerstreut, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn. Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllt er mit Gütern und läßt die Reichen leer ausgehen. Er gedenkt der Barmherzigkeit und hilft seinem Diener Israel auf, wie er geredet hat zu unsern Vätern, Abraham und seinen Kindern in Ewigkeit.“

HERR, tu meine Lippen auf, dass mein Mund DEIN Wort verkündige, Amen.

Du,
ja, Du, Frau. Schön hast Du gesungen.
„Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist freut sich Gottes, meines Heilandes; denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen. Siehe, von nun an werden mich seligpreisen alle Kindeskinder.“
Das stimmt: In den letzten tausend Jahren haben Dich Millionen Menschen angesprochen: „Gepriesen bist du unter den Frauen, und gepriesen ist die Frucht deines Leibes!“

Wie viele haben sich dadurch mit ihrer Niedrigkeit abgefunden?
Wie viele haben die langen Wege vergessen, die sie haben gehen müssen? Weil sie an Deinen Weg über das judäische Gebirge gedacht haben.
Wie viele haben die Verachtung und Unterdrückung durch Männer und andere Menschen übersehen, weil sie Dich vor Augen hatten: Deine Schwangerschaft ohne Trauschein, das böse Gekeife der anderen Weiber, weil Du ein Kind bekommst, das keinen Vater mit Brief und Siegel hat.
Maria, wie viele Frauen haben in sich das werdende Leben gefühlt, das in ihnen wächst und haben gehofft, dass Du es und sie selbst segnest mit der Hoffnung dieses Grußes:
„Gepriesen bist du unter den Frauen, und gepriesen ist die Frucht deines Leibes!“

Für wie viele Frauen ist Dein Bildnis zum Ort geworden, wo eine Frau etwas gilt. Wo eine Frau kostbar gestaltet und wunderbar gekleidet ist, wo eine Frau nicht geschunden, getrieben, verletzt und verstoßen wird. Wo eine Frau im festlichen Rahmen einer Kirche würdevoll steht und sich nicht in der Küche, im Büro oder an anderen Orten krumm machen muss.

Maria, hier in unserer Ringkirche fehlst Du. Auch in den meisten anderen evangelischen Kirchen sucht man Dich vergebens.

Das Leid, das Dir viele Millionen klagen, das sollen wir Gott klagen. Dem Gott, von dem wir uns kein Bildnis machen dürfen und wollen. Das ist auch gut so.

Aber manchmal fehlt mir Dein Bild, Maria. Hier in meiner Kirche.

Manchmal wünsche ich mir eine Ecke, wo Du stehst. Aus warmem Holz. Eine Kerze, die ich vor Dir anzünden kann. Eine Kniebank. Ein paar Minuten, in denen ich die Augen nicht schließen muss, weil sie auf Dir ruhen. Auf Deinem Gesicht spiegelt sich all das, was Menschen erleben können: Die Freude über Dein Kind, die Geduld mit der Verachtung der anderen, der Schmerz des Verlusts, wenn Dein Sohn getötet wird, weil er der Welt Sünde trägt.

Maria, Du bist uns Evangelischen verloren gegangen. Vielleicht, weil niemand sagen kann, ob Du nicht angebetet wirst, wenn da einer vor Dir kniet.

Heute in dem Zeitalter, in dem Frauen per Internet zum billigen Verkaufsartikel geworden sind. Heute, da perfekt gestylte Frauen dazu geboren zu sein scheinen, Joghurt, Margarine, Lippenstift und Shampoo verkaufen zu helfen. Heute, da Kinder und Jugendliche den Anblick jedes menschlichen Körperteils von klein auf kennen:

Heute brauchen wir das Gefühl von Heiligkeit.

Deine Heiligkeit.

Als Frau, als Mutter, als Mensch, als Muttergottes, als Menschengebärerin. Wir brauchen eine Neuentdeckung des Heiligen, weil Menschen nicht nur aus vergänglichen Körpern bestehen, sondern aus einer Seele, aus einem Gottesgeschenk. Wir brauchen Dich, weil sich viele Menschen schämen, dass sie nicht wie Reklamepüppchen aussehen. Weil Du weißt, dass es Gott ist, der uns aus unserer Niedrigkeit erlöst. Du fehlst uns Maria, auch wenn wir Dich nicht in eine Höhle von Lourdes sperren wollen, wenn uns mancher religiöse Verein, der deinen Namen trägt, gespenstisch vorkommt und wenn wir nicht wollen, dass Du zu einer Göttin neben Gott werden sollst, wie das Papst Johannes Paul II. betreibt.

Du fehlst uns, Maria, weil wir den Respekt verlieren vor Frauen, die unter ihrem Herzen ein Leben austragen. Vor Frauen, die bereit sind, sich die Finger für Kinder schmutzig zu machen, auch wenn sie so nicht auf Plakatwände passen und keine Zeit haben, ewig lächelnd im Fernsehspot für schlankheitsförderlichen Brotaufstrich zu werben.

Maria, wir brauchen Dich, weil DU der Advent bist. Die Zeit bevor Jesus Christus ankommt in unserer Welt ist die Zeit, in der DU ihn unter dem Herzen trägst.

Ich wünsche mir, dass Jesus in unseren Herzen geboren wird. Das er sich in unser Denken und Empfinden hineinlegt, so wie DU ihn neun Monate in Deinem Bauch getragen hast.

Dein Sohn, Maria, ist wahrer Mensch und wahrer Gott. Zu dem wahren Menschen gehörst Du, seine Mutter. In unserer protestantischen Angst vor Dir nehmen wir auch Jesus Christus etwas weg: Seine Menschenmutter.

Sei Du uns ein Wegzeichen auf dem Adventsweg. Lass uns als Evangelische den Mut haben, Dir auf dem Weg zu folgen, an dessen Ende die Geburt eines kleinen Kindes steht. Des Gottes, der von einer Frau geboren wird und der von den Seinen nicht erkannt wird, weil sie die Finsternis mehr liebten als das Licht.Maria, lehre uns, wie wir Jesus Christus in uns tragen können, damit er für unsere Welt immer neu geboren wird. An Weihnachten und an allen Tagen.

Gott lass uns in Marias Magnifikat einstimmen, das Loblied, das Deine Gerechtigkeit und Größe besingt,
denn dein  Friede, welcher höher ist denn alle Vernunft, bewahre unsre Herzen und Sinne in Christo, Jesu, Amen.