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Am 20. Sonntag nach Trinitatis war ein Taufgottesdienst in der Ringkirche, bei dem Lukas, Janina und Christian getauft wurden. Der Taufteil erinnerte an ein altes Gebet von Thomas Morus und in der Predigt von Ralf- Andreas Gmelin zum 2. Brief des Paulus an die Christen in Korinth 3,3-10 ging es um Befreiung und Erlösung
 

Thomas Morus, der vor 500 Jahren über Gott und die Welt nachgedacht hat, fasste das Notwendige im Leben in ein Gebet:
„Schenke mir eine gute Verdauung, Herr und auch etwas zu verdauen.
Schenke mir Gesundheit des Leibes und lass mich ihn möglichst gut erhalten.
Schenke mir eine heilige Seele, Gott, die im Auge behält was gut und rein ist, damit meine Seele im Augenblick der Sünde nicht erschrickt, sondern das findet, was alles wieder in Ordnung bringt.
Schenke mir eine Seele der Langeweile fremd ist, die kein Murren kennt, lass mich nicht stöhnen und maulen.
Lass nicht zu, dass ich mir zu viele Sorgen mache, um dieses „Ich”, das sich ständig in mir breit macht.
Lass mich nicht alles ernst nehmen, lass mich einen Scherz verstehen.
Lass mich ein bisschen Glück erfahren, damit ich es anderen mitteilen kann.”

In diesem Gebet steckt wohl alles, was wir unseren Täuflingen wünschen: Genug zu essen, Gesundheit, eine positive Lebenseinstellung, Einsatzfreude, eine Leben ohne zermürbende Sorgen, das sich nicht nur um sich selbst dreht - und dazu noch den Humor, nicht alles auf die Goldwaage legen zu müssen.

Als Zeichen von Gottes Zuwendung zu ihnen hören wir auf den Auftrag, den uns Jesus Christus gegeben hat:
Darum geht hin und macht zu Jüngern alle Völker: Tauft sie auf den Namen des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehrt sie alles halten, was ich Euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei Euch alle Tage, bis an der Welt Ende.

Predigt:
Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus.

Paulus schreibt an die Gemeinde in der griechischen Hafenstadt Korinth - wir haben vorhin schon einen Satz aus dem selben Brief als Taufspruch für Christian Konz gehört (2.Kor 3,3-10):
Ist doch offenbar geworden, dass ihr ein Brief Christi seid, durch unsern Dienst zubereitet, geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht auf steinerne Tafeln, sondern auf fleischerne Tafeln, nämlich eure Herzen. Solches Vertrauen aber haben wir durch Christus zu Gott. Nicht dass wir tüchtig sind von uns selber, uns etwas zuzurechnen als von uns selber; sondern dass wir tüchtig sind, ist von Gott, der uns auch tüchtig gemacht hat zu Dienern des neuen Bundes, nicht des Buchstabens, sondern des Geistes. Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig. Wenn aber schon das Amt, das den Tod bringt und das mit Buchstaben in Stein gehauen war, Herrlichkeit hatte, so dass die Israeliten das Angesicht des Mose nicht ansehen konnten wegen der Herrlichkeit auf seinem Angesicht, die doch aufhörte, wie sollte nicht viel mehr das Amt, das den Geist gibt, Herrlichkeit haben? Denn wenn das Amt, das zur Verdammnis führt, Herrlichkeit hatte, wie viel mehr hat das Amt, das zur Gerechtigkeit führt, überschwängliche Herrlichkeit.

HERR, tu meine Lippen auf, dass mein Mund Deinen Ruhm verkündige.

Liebe Gottesdienstgemeinde,
liebe Tauffamilien,
liebe Eltern und Paten,

drei junge Menschen sind eben Christen geworden und ein Glied der Kirche Gottes geworden. Wir haben sie mit Wasser abgewaschen, wir haben den Auftrag von Jesus Christus erfüllt und jetzt sind die drei sehr unterschiedlichen jungen Menschen in einer Hinsicht vereint: Sie gehören zu der Kirche, zur Gemeinschaft der Christen, zu der wohl auch die meisten derer gehören, die jetzt hier in der Ringkirche sitzen.

Und die Geschichte mit dem Handauflegen, mit dem Wasser, und dem Segen lässt sich noch ganz gut verstehen. Aber jetzt: Dieser Brief von Paulus? Wenn sich unser Herz in einen Brief verwandelt. Was steht denn dann da drauf, auf meinem Herzen? Wirklich das, was Paulus meint? Irgendwas mit dem lieben Gott? Irgendwas von Vertrauen, vom Geist des Buchstabens oder vom Bund Gottes? Vielleicht ist es gut, wenn wir diese Frage nicht weiter verfolgen: was auf unserem Herzen geschrieben steht, wenn wir ein Brief wären. Vielleicht finden wir Worte auf unser Herz geschrieben, die uns nicht gerade stolz machen.

Suchen wir lieber nach Spuren davon, was uns mit Gott verbindet. Drei junge Menschen sind heute in diese Kirche gekommen. Irgendetwas muss der Grund dafür sein, dass sie mit Gott einen Bund geschlossen haben. dass es Eltern gibt, die die Entscheidung getroffen - oder vorbereitet haben: Ja, es ist gut, wenn dieses Kind getauft wird.

Fragen wir uns:
Welche Konsequenzen hat es, wenn ich mit meiner Taufe ernst mache?
Werde ich so ein neuer Mensch?
Oder schleppe ich meine gewohnten Altlasten mit?
Wie sieht meine Ehe aus, wenn ich ein christliches Leben führen will?
Wie könnte mein christliches Leben aussehen? Wenn ich nicht als Taufscheinchrist ein Schein-Christentum lebe, sondern als Überzeugungstäter hinter dem Wasser der Taufe stehe, hinter ihrer Bedeutung.
Kann ich diesen Jesus in mein Leben hineinlassen?  Lasse ich ihn hier aus dieser Kirche herausgehen? Oder möchte ich lieber nicht, dass er hinter mir hergeht, wenn ich durch  die Kirchentür nach draußen gehe?
Welche Konsequenzen hat es, wenn ich mit meiner Taufe ernst mache?

Wie gehe ich mit mir um? Bin ich mir wertvoll, liebe ich mich, damit ich meinen Nächsten lieben kann?
Spüre ich es: Du bist kostbar, weil Gott zu Dir Ja gesagt hat?
Bin ich fähig, den Gedanken an einen Gott über mir auszuhalten?

Finde ich das Bild vom gekreuzigten Gott, von der geschundenen menschlichen Kreatur, von dem ausgepeitschten Leichnam auf Golgatha eine widerlich unmenschliche Phantasie? Oder ist sie mir ein einzigartiges Zeugnis gegen eine Welt der Schinder, der Folterknechte und Totschläger?
Ist mir der geopferte Gott ein Befreier, der mich erlöst, oder tu ich ihn ab als Männerphantasie, als mythologisches Märchen, als symbolische Mordgeschichte?
Traue ich mich, diese Befreiung von Gott zu fordern, von Gott zu erbitten, im Gebet vor Gott zu bringen? Auch heute wirkt die Macht des Gebets durch die Mauern der Gleichgültigkeit hindurch: Das Gebet, das das Leben von Menschen mit vollem  Ernst vor Gott trägt. Ist diese Sehnsucht nach Erlösung, diese Sehnsucht nach Befreiung und Freiheit in mich eingezeichnet, „geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht auf steinerne Tafeln, sondern auf fleischerne Tafeln, nämlich eure Herzen”? -

Berlin 1976, Tiefgeschoss im Bahnhof Friedrichstraße. Der Sozialismus steht in Blüte. Die Staatsorgane der DDR sind unermüdlich darauf bedacht, jede Unsicherheit, Unregelmäßigkeit und Dummheit westdeutscher Touristen streng zu ahnden. Ich sitze in einer Zelle. Eine nackte Glühbirne an der Decke. Ein Holzstuhl, auf dem ich sitze, vor mir ein kleiner schäbiger Tisch, auf dem eine Schreibmaschine steht. Die Genossin Unterkommissar wurde eben herausgerufen. Das Verhör ist unterbrochen. Ich sitze auf meinem Stuhl, die Angst bläht sich im meinem Magen auf. -

Wie kamen wir dahin? Ein par jugendliche Männer waren auf uns zu gekommen. Locker, bittend. Eine kleine Gefälligkeit wollten sie: „Hey für Euch sind doch bloß ein paar Mark, beim Zurückfahren tauscht ihr sie einfach wieder zurück.” Ein paar begehrte West-Mark tauschen. Trotz der Devisengesetze. Mit naivem Wessi-Idealismus tausche ich sogar 1:1 obwohl der Schwarzmarktwert fast das Zehnfache beträgt. Und der Lohn?

Ich sitze in der Zelle. Meine Freunde haben mir dieses ganze Ostgeld gegeben. Ich soll das jetzt managen. Sie sitzen irgendwo im verschlossenen Bereich des Bahnhof Friedrichstraße. Ich tu mir leid, aber habe gleichzeitig Angst um sie. Ungewisse Zukunft. Westdeutsche sind hier rechtlos. Wenn sie mich und meine Freunde dabehalten wollen, um unsere Regierung zum Freikauf zu zwingen, dann kann es Tage, Wochen oder sogar Monate dauern. Hoch unter der Decke eine winzige Luke. Vergittert. Kein Entrinnen. Vor mir das getauschte Ostgeld, wie albernes Spielgeld. Fast ein komischer Anblick. Ausgerechnet wegen dieser Scheinchen büßen müssen? Endlose Augenblicke, Horrorgedanken, Erinnerungen an Berichte aus Bautzen, die Angst kriecht Richtung Hals. Das blöde Gefühl: Du hast doch gar nichts Böses tun wollen. Die Ohnmacht gegenüber der klapprigen Schreibmaschine, in der ein Protokoll steckt: Zwei vergilbte Papiere, zwischen denen ein Kohlepapier darauf wartet, seine letzte Farbe zu verlieren. Irgendwo da draußen auf dem Flur die Genossin Unterkommissar, die sich redlich bemüht hat, mir jedes Wort im Munde umzudrehen. Sie hat nachher Dienstschluss und ich? Was wird aus meinen Freunden, die sich darauf verlassen, dass ich das hier irgendwie hinkriege?

Die erzwungene Ruhe. Nur weiterhin nach außen stoisch bleiben! Der feste Vorsatz, die Wahrheit zu sagen und nicht den geringsten Schwindel zu begehen. Die Kraftanstrengung in den Knochen, jede Aussage ruhig und ohne Zorn zu wiederholen, wenn die Genossin der bewaffneten Staatsorgane wieder versucht, mir aus einem Satz einen Strick zu drehen.

Irgendwo erklingt in mir "In Tyrannis" vom Berliner Liedermacher Reinhard Mey, ein Lied das er in dieser Berliner Untersuchungszelle geschrieben haben könnte:
"Von Wand zu Wand sind es zwei Schritte,
von Tür zu Fenster sechseinhalb.
Aber das Fenster ist zu hoch
Und viel zu weit fort von der Pritsche,
Um dadurch irgendwas zu sehen."
Zum Glück gibt’s hier in dieser Zelle noch keine Pritsche; in mir ist noch ein Fünkchen Optimismus am Glimmen, doch noch vor Einbruch der Nacht hier heraus zu dürfen.

Ich fühle mich als Opfer einer willkürlichen Gewalt. In meine Erinnerung heute mischt sich das Gefühl, ob es dieses Erlebnis im Bahnhof Friedrichstraße der Grund ist, warum ich die alte DDR und ihre alte neue Partei fürchte wie der Teufel das Weihwasser, trotz des Fraktionsstatus, den sie noch vor wenigen Wochen im Bundestag gehabt hat.

Zurück in den Bahnhof Friedrichstraße: Ich warte auf das Wunder, das uns jetzt retten soll. Aber es kommt kein weißes Gewand hereingeschwebt. Kein Engel mit Friedenspalme oder Schwert. Die Ungewissheit drückt im Nacken, die Schultern sind verkrampft und tun weh. Die Tür geht auf und ich höre auf dem Gang einen Offizier, der der Genossin Unterkommissar sagt: Man habe im Augenblick kein Interesse, uns weiter festzuhalten. Das Geld wird konfisziert, wenige Augenblick später ist der Spuk vorbei. Laut ratternd verlässt die U-Bahn Ostberlin und die abgestandene Luft im alten Waggon duftet intensiv nach Freiheit und Erleichterung, ja nach Erlösung. Wir steigen in Westberlin in die Nachtluft, die plötzlich ganz anders schmeckt als dort, 500 Meter weiter, jenseits der Betonmauer.

In den Katakomben der untergegangenen DDR-Diktatur hat irgendwo einer gesessen, der für mich zum Erlöser-Engel geworden ist. Vielleicht ist es ihm egal gewesen und ihm wäre das Protokoll und die Akte nur lästig gewesen. Vielleicht wollte er nur Feierabend haben. Warum er die Anweisung gegeben hat, braucht mich nicht zu interessieren.

Dass Gott mich erlöst, mich aus Gefangenschaft befreit, ist wichtiger als das Instrument, dessen sich Gott bedient.

Auch die Taufe soll ein Befreiungszeichen sein: Sie soll uns daran erinnern, dass Gott wichtiger ist als alles in dieser Welt, wovor wir sonst Angst haben könnten. Gott gefällt es, wenn das Gefängnis zerbricht, in das sich Menschen gegenseitig sperren, Gott liebt Orte, wo sich die Mauern auftun, wo die Gitter zerschmelzen - aus Liebe. Gott steckt dahinter, wenn ein Wunder geschieht. Auch in Zeiten von Seelennöten, wenn unser Denken und Empfinden gefangen ist von bedrohlichen Gedanken oder einer dunklen Traurigkeit, dann kann Gott uns den erlösenden Engel senden.  Es tut uns gut, wenn wir in dieser Erlösung ein Werk Gottes herausspüren. Dies macht es manchmal auch unserem erlösenden Engel leichter, uns aus der seelischen Gefangenschaft zu befreien.

Ich wünsche Ihnen allen, dass Sie in allen Beklommenheiten und Befangenheiten den  Wunsch Gottes spüren, dass Sie Erlösung erfahren. Er wirkt hinter Gefängnis- und Krankenhausmauern. Er wirkt, wenn uns Ängste klein machen,  vor Vorgesetzten, vor überheblichen Blicken, vor Prüfungskommissionen und Streitgesprächen. Und er wirkt auch gegen die Mauer, die unsere Seele oft genug umgibt.

Ich wünsche unseren drei Täuflingen, dass für sie ihre Taufe zu einem wichtigen Ereignis wird: Gott sagt zu Dir Ja, und macht Dich damit frei, Dich beweisen zu müssen. Du bist wertvoll, weil Gott Dich zu seinem Kind gemacht hat. Darum ist jede Minute von Deinem Leben kostbar. Nutze diese kostbaren Augenblicke!

DU, lass uns Deine erlösende Macht erfahren, denn dein Friede, der höher ist denn alle Vernunft, er bewahre unsre Herzen und Sinne in Christo Jesu, Amen.