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Am vierten Sonntag nach Trinitatis, den 23. Juni 2002 stand der Reisesegen im Mittelpunkt des Gottesdienstes in der Ringkirche, in dem auch die Kantorei und der Kindergottesdienst sangen. Dazu hielt Ralf-Andreas Gmelin die Predigt, die auch  die Geschichte vom reichen Jüngling erzählt (Matthäus 19,21-26):

Reisen; das ist für manchen nur unnötige Zeit im Stau, viel Benzin und Kerosin-Verschwendung, verplemperte Zeit in viel zuviel Sonne. Aber dennoch: Reisen verändert den Alltag; es zeigt, wie ein Leben auch anders sein kann, es führt weit weg in die Ferne und es lässt uns unseren Alltag neu wahrnehmen. Darum bin ich für das Reisen. Trotz aller Staus und manchem Nachteil, den es mit sich bringt.

Die Reise ist schon früh ein Bild für den Aufbruch des Glaubens gewesen: Wir haben vorhin die Geschichte gehört, dass die Kinder Israel aufbrechen und sich nicht auf die Fleischtöpfe Ägyptens, sondern auf die Leitung Gottes verlassen. Es war ein harter Weg; aber es wurde der Weg ins gelobte Land. Bis heute ist der Weg nach Israel ein harter und unbegreiflicher Weg und die Ereignisse von Ramallah passen in das Bild von der Wanderung, die niemals ganz zu Ende kommt.

Der Glaube ist eine Reise in ein fernes Land, das genau so aussieht, wie die Welt in der ich jeden Tag lebe. Der Glaube ist eine Reise in einen Alltag, der zur gleichen Zeit beginnt, wie mein Arbeitstag, der ebenso verläuft und zur gleichen Stunde das Licht ausknipst. Der Glaube ist ein Abheben ohne Flugzeug, ein Getragensein ohne Schiff und ein Landen ohne Flughafen und Kaimauer. Wie der Glaube ein Abbild hat im Reisen, so ist auch die Reise ein Gleichnis für den Glauben.

Der Tag vor der Abreise: Die Koffer sind gepackt, die Stecker werden herausgezogen, es wird noch schnell geduscht, damit es morgen früh nicht so lange dauert. Vor dem Einschlafen noch der letzte Blick auf die Landkarte, damit es morgen in die richtige Richtung geht.

Der Start in das christliche Glaubensleben kann sehr unterschiedlich verlaufen. Er kann zügig und flott bei einem Kind losgehen und eine lebenslange Wanderschaft werden:  es kann mit bescheidenen Reisevorbereitungen und geringem Gepäck furios losgehen oder völlig ausfallen. Der Start in den Glauben bleibt häufig in der Entschlusslosigkeit stecken. Weil bei einer Reise kann man nur Bleiben oder Losgehen; man kann nicht beides ein bisschen. Taufe und Segen, das ist das Minimalgepäck für Christen: Sie waschen sich den Staub der Vergangenheit ab und lassen sich von Gottes Segen die Richtung weisen. Dusche und Landkarte.-

Das was uns in den Koffer gesteckt wurde, das ist eine Vielzahl von elterlicher Liebe, von dem Gefühl willkommen zu sein im Leben, aber auch von kleinen und großen Erzählungen und Geschichten, die uns sicher machen: Dein Leben ist sinnvoll, weil Gott es so will.

Wenn dann der Reisemorgen gekommen ist, fällt die Tür zu, der Schlüssel dreht sich im Schloss und der sichere Alltag bleibt zurück zugunsten des Abenteuers, das im Fremden, Unbekannten besteht. Wer dann die Füße voreinander setzt, wer sich nicht umdreht und nach neuen Ufern sucht, der weiß: Ich habe es geschafft: Jetzt bin ich unterwegs.

Im Glauben ist das schwer: Das Zurücklassen wird mir da sauer, so wie es schon der junge Mann erfahren musste, der von Jesus wissen wollte, wo er hin gehen soll: (Mt. 19,21-26) Jesus antwortete ihm: Willst du vollkommen sein, so geh hin, verkaufe, was du hast, und gib's den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben; und komm und folge mir nach! Als der Jüngling das Wort hörte, ging er betrübt davon; denn er hatte viele Güter. Jesus aber sprach zu seinen Jüngern: Wahrlich, ich sage euch: Ein Reicher wird schwer ins Himmelreich kommen. Und weiter sage ich euch: Es ist leichter, dass ein Schiffstau durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher ins Reich Gottes komme. Als das seine Jünger hörten, entsetzten sie sich sehr und sprachen: Ja, wer kann dann selig werden? Jesus aber sah sie an und sprach zu ihnen: Bei den Menschen ist's unmöglich; aber bei Gott sind alle Dinge möglich.

Die Geschichte um die Abreise fällt um so schwerer, je mehr es gibt, woran mein Herz hängt: Das muss kein Reichtum sein, sondern alles kann mir zum schweren Wurfanker werden, der verhindert, dass mein Glaubensstart wirklich zum Neubeginn wird. Aber die Geschichte vom reichen Jüngling geht dennoch gut aus: Gott kann uns auch dann abheben lassen, wenn wir noch so viele Klötze am Bein haben.

Unterwegs sein, in der Fremde sein, das ist eine Grunderfahrung, die sehr viele Menschen in unserem Land machen. Sie sind nicht als Urlauber hierher gekommen, sondern als Menschen, die aus sehr unterschiedlichen Gründen einen neuen Lebenshorizont gesucht haben - bei uns. Gestern war unüberhörbar, dass sich die türkischen Mitbürger nicht wie sonst oft als Deutsche türkischer Herkunft gefühlt haben, sondern mit der ganzen Glut ihrer Autohupen ihre türkische Identität beschworen haben.

Bei einer Reise durch Syrien habe ich in der Hauptstadt Damaskus hinter der prächtigen Omajjaden-Moschee einen Hakawadi erlebt, einen Geschichtenerzähler, der dort mit dem ganzen erzählerischen Temperament des Orient eine arabische Geschichte vorgetragen hat, von der ich kein Wort verstanden habe.
Ich möchte Ihnen die Erfahrung eines Reisenden in Deutschland mitteilen, der seit etwa 30 Jahren hier lebt und aus seiner Heimat Syrien - er ist in Damaskus geboren - einen Beruf mitgebracht hat, den es hier in Deutschland nie gab. Rafik Schami ist ein Hakawadi, ein berufsmäßiger Geschichtenerzähler und er erzählt hinreißender Geschichten in deutscher Sprache als alle muttersprachlichen Erzähler, die ich kenne. Rafik Schami schildert die erste Hürde des Exils - gerade für einen Erzähler - in der Sprache. Auch hier in Wiesbaden hat er schon unter Beweis gestellt, dass er diese Hürde beeindruckend genommen hat. Die zweite Hürde nennt er:
„Das Leben als Ausländer. Beim Eintritt in ein fremdes Land bekommt der Fremde einen für ihn unsichtbaren Spiegel auf die Stirn geklebt, und so schauen sich alle Einheimischen, die an ihm vorbeigehen, in diesem Spiegel an. Manche rücken die Haare zurecht und gehen ungerührt vorbei, ein anderer wiederum sieht all das Hässliche an sich und hasst dafür den Spiegel samt Träger. Nach 31 Jahren kenne ich nun viele Fallgruben, Sackgassen, tödliche Ecken, aber auch freundliche Nischen meines Exils. Ich habe sie markiert und viele Ecken mit Schildern versehen, damit ich mich nicht nur zurecht finde, sondern meine knappe Zeit auf Erden nicht durch sinnlose Wiederholung verliere. In meinem Labyrinth werde ich oft von einer Fata Morgana heimgesucht. Sie ist in jedem Regentropfen, in jedem nach Kardamom duftenden Kaffee, in jedem Windhauch und blauen Himmel, in jedem Telefongespräch mit Damaskus, und sie meldet sich sofort, wenn ich mit ihr nicht mehr rechne. Die Fata Morgana meines Labyrinths heißt: Ausgang. Und sie rückt manchmal so nahe, dass ich Damaskus fast sehe.”

So weit ein Reisender, der als christlicher Araber, der von einer Familie aus Maalula kommt und in Damaskus aufwächst ein reisender bleiben wird: Hier im deutschen Exil als mit dem Doktortitel ausstaffierter Naturwissenschaftler, der Geschichten erzählt, aber er bliebe wohl auch ein Reisender in seiner geliebten Heimatstadt Damaskus, wo sich die dreißig Jahre Deutschland sicher jeden Tag melden würden. Vielleicht nicht mit dem eben so wundervoll melancholisch geschilderten Heimweh, aber sicher auch nachdrücklich.

Ehrlich gesagt: Ich weiß gar nicht, was Rafik Schami glaubt, obwohl ich wirklich sehr viele seiner Bücher kenne. Aber dass er ein Reisender in Sachen Glauben ist, wie ich mir die Glaubensreise von Christen vorstelle, dafür habe ich zwei Indizien gefunden: Er erzählt die Geschichten einer von den Muslimen unterdrückten christlichen Minderheit in Syrien. Und er verteidigt die Muslime und den Islam, wenn sie in Deutschland angegriffen werden. Ich sehe daraus, dass er auf seiner Glaubensreise ganz viel erlebt hat, das ihn vor Verbitterung und Intoleranz beschützt hat. Da muss wohl viel Gutes dabei gewesen sein.

Für unseren Aufbruch zu einer Urlaubsreise oder in noch unbekannte Länder des Glaubens wünsche ich uns allen, dass wir unterwegs Gutes erleben, das uns an den erinnert, der uns wohlbehalten und ein bisschen weise nach Hause zurückkehren lassen möchte.

Wir hören nun auf die gesungenen Worte eines irischen Reisesegens, der nachher unseren Gottesdienst beenden wird:

Der Weg soll sich öffnen,
der Dich vorwärts bringt.
Der Wind soll wehen,
der Dir im Rücken steht.
Die Sonne soll warm Dein Gesicht erstrahlen lassen
und sanfter Regen soll Bäume und Felder grün erhalten.
Bis wir uns wiedersehen
soll Gott Dich auf seiner Handfläche tragen.

Auf unserem Weg bewahre uns der Friede Gottes, der höher ist denn alle Vernunft, unsre Herzen und Sinne in Christo Jesu, Amen.