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Am Ewigkeitssonntag, den 25.November 2001 hielt Ralf-Andreas Gmelin die Predigt zu der Textstelle Markus 13,31-37, in der es darum geht, dass Menschen wachsam sein sollen.

Liebe Gottesdienstgemeinde,

am heutigen Ewigkeitssonntag soll Sie ein Gedicht begrüßen, dass der ehemalige Ringkirchenpfarrer Fritz Philippi (1869- 1933) geschrieben hat. Ein Gedicht, das den biblischen Wunsch in Verse bringt: Lehre mich bedenken, dass ich sterben muss, auf dass ich klug werde:

Der Abend bracht den Tag zur Ruh.

Und friedlich träumt die Welt vom Tag,

vom alten Tag, vom jungen Tag.

Mich aber richtete die Nacht.

Er ist dahin, dein Tag.

Unwiederbringlich. Sag,

was hast du, Mensch, mit ihm gemacht?

Er kam vom Licht, und er vertraute

sich ohne Arg dir leuchtend an.

Und du? Was hast du ihm getan?

Dir sollt er heilig sein.

Du mußtest, voller Scham vor seinem Licht,

das forttun, was an dir gemein.

Und führen, zwingen mußt er dich zur Pflicht,

zu seinem Gott und deinem Gott,-

Was hast du mit dem Tag gemacht!

Nun bin ich dein Gericht - die Nacht.

Am Ewigkeitssonntag denken wir an Menschen, die uns vor kurzer Zeit noch nahe waren, die wir geliebt haben und die wir loslassen mussten.

Die Erinnerung an sie kostet uns Kraft, weil unsere Trauer uns zeigt, wie kostbar das war, das wir hinter uns lassen mussten.

Aber die Erinnerung an sie soll uns auch etwas Wertvolles schenken: Die Einsicht, wie kostbar jeder Tag ist, den wir leben dürfen.

Es ist die Weisheit der Alten Kirche, daß wir nach dem Ausblick in die Ewigkeit am kommenden Sonntag mit dem Ersten Advent das Neue Kirchenjahr begrüßen, indem wir auf das Kleine, das Unspektakuläre, das Geschehen im Stall zu Bethlehem warten.

Die Ewigkeit und Gottes Kommen auf diese Erde gehören so fest zusammen. Unsere Hoffnung darauf soll uns die Furcht nehmen vor dem, was Menchen nicht aufhalten können - und sollen. -

Lasst uns hören auf die Worte der Heiligen Schrift, wie wir sie aufgezeichnet finden im Markusevangelium im 13. Kapitel (31-37):

Von dem Tage aber und der Stunde weiß niemand, auch die Engel im Himmel nicht, auch der Sohn nicht, sondern allein der Vater. Seht euch vor, wachet! denn ihr wißt nicht, wann die Zeit da ist. Wie bei einem Menschen, der über Land zog und verließ sein Haus und gab seinen Knechten Vollmacht, einem jeden seine Arbeit, und gebot dem Türhüter, er solle wachen: so wacht nun; denn ihr wißt nicht, wann der Herr des Hauses kommt, ob am Abend oder zur Mitternacht oder um den Hahnenschrei oder am Morgen, damit er euch nicht schlafend finde, wenn er plötzlich kommt. Was ich aber euch sage, das sage ich allen: Wachet!

Am Ewigkeitssonntag bleibt uns nichts erspart.

Jesus Christus zeigt sich in diesem Appell von seiner dunklen Seite. Aus dieser Szene spricht nicht der Schmuseprophet, den sich viele Menschen wünschen, sondern ein geheimnnisvoller Prediger, der in der Vollmacht Gottes redet. - Und der weiß, wovon er spricht, weil er die Abgründe unseres Menschseins kennt.

Zu diesen Abgründen gehört, dass wir unser Leben gern locker angehn: Bunte Bilder an der Oberfläche, flotte Rhythmen, nette Leute, Zeitvertreib, bloß nicht zu mir kommen, bloß nicht über mich nachdenken, bloß nicht aufwachen! Ein Leben, das vorüberzieht, wie ein Schatten, und trotz aller Aktivitäten: Ein ziemlich schläfriges Geschäft. Wach sind wir nur kurz: Wenn der Tod uns plötzlich ganz nahe ist oder auch, wenn unser Alltag von einer Katastrophe überschattet wird, die alles in ein neues Licht taucht. Viele von uns haben in dem zurückliegenden Jahr die Nähe des Todes spüren müssen. Und wir alle haben die scheinbare Sicherheit einer großen hochtechnisierten Zivilisation zusammenbrechen sehen.

Wir wissen ja, dass viele Träume vom idealen Leben verkehrt sind. Wir wissen, dass die Bilder in Reiseprospekten mit blauem Meer, Palmen und leuchtend weißem Strand eben nur Kitschpostkarten sind. Wir wissen, dass die Urlaubsparadiese oft genug mit der Unterdrückung der dort lebenden Bevölkerung einhergehen. Und dennoch halten sich auch falsche Träume: Sie sind verkehrt, aber schön.

Die bunte Welt der Reklame vermittelt uns trotz dem 11. September, trotz der globalen Ungerechtigkeit und trotz der Alltäglichkeit, dass Menschen unter uns sterben: Hauptsache, es geht was ab und ich wache dabei nicht auf. Hauptsache ich halte mich flott und lustig im Dämmerzustand zwischen Leben und Apathie, dann muss ich nicht über mich nachdenken.

Zum Wachzustand gehört das Nachdenken, wie gut es uns in diesem immer noch reichen Land geht: Untersuchungen belegen: 80 Prozent aller Familien kennen kein persönliches Gespräch mehr miteinander. Man erzählt einander nichts, was wichtig ist, sondern kommt sich nur nah, wenn man richtig schön Streit hat. Die Mehrzahl von Männern ist völlig unfähig, das eigene seelische Befinden mitzuteilen, in Worte zu fassen oder einem nahestehenden Menschen aufrichtig mitzuteilen.

Zu den einschneidenen Erlebnissen meiner kirchlichen Lebensgeschichte gehört ein Gottesdienst: Ein freundlicher Kollege wurde in ein Amt unserer Kirche eingeführt, ein Wächteramt. Der eben Eingeführte hielt dann eine Predigt: eine Stunde lang! Ich vermute, nicht nur mir allein ist nach spätestens zwanzig Minuten jedes fromme Gefühl eingeschlafen. Meine Aufmerksamkeit ertrank in der Flut von Worten. Finstere Träume dämmerten auf. Irgendwann waren die einzigen Lichtblicke boshafte Bemerkungen, die ich mit einer befreundeten Kollegin getuschelt habe.

Vielleicht ist die Geräuschkulisse von Seiten der Konfirmandinnen und Konfirmanden im Gottesdienst manchmal etwas Ähnliches, wenn sie aus dem Inhalt der Predigt ausgestiegen sind. Es ist wohl nicht immer boshafte Unaufmerksamkeit, sondern manchmal auch eine Flucht aus einem Gottesdienstbetrieb, den sie nicht durchschauen und der dann schmerzhaft langweilt?

Schlimm ist das auch bei den Konfirmandinnen und Konfirmanden - aber natürlich auch bei jedem anderen Gottesdienstteilnehmer, weil es um das Gegenteil geht: Wachet.

Wenn hier im Gottesdienst alles schläfrig bleibt, wie kann dann aus unserer Kirche das wachmachende Wort von Jesus Christus in die Welt dringen?

Woher soll der Mut kommen, mit dem Väter mit ihren Söhnen sprechen - eben nicht über Fußball, sondern über sich und ihr Leben.

Woher soll die Kraft von Töchtern kommen, die mit ihren Müttern sprechen - nicht über Klamotten und Klatsch, sondern über ihr Vertrauen in einander?

Woher sollen die Klingeln für unsere schläfrige Zeit ertönen, wenn nicht jetzt, wenn nicht hier, wenn nicht im Gottesdienst, in dem Jesus Christus uns an der Schulter packen will, um uns wachzurütteln!

Wir wissen nicht, wann unsere Stunde schlägt, wir wissen auch nicht, wann der letzte Wecker klingelt. Aber der alltägliche Wecker für unser Leben, die Alarmklingel der Liebe, die muss hier und jetzt schrillen.

In unserer Welt von pausenlos hektisch umgetriebenen Pennern muss dieser Wecker ertönen, denn zur Liebe müssen wir hellwach sein.

Die Stunde, die uns aus dem Leben nimmt, die Stunde, die uns aus der Zeit in die Ewigkeit ruft, das ist die Stunde, an dem dieser Ruf zur Liebe nicht mehr für uns ergeht. Dann werden wir auf andere Weise gerufen. Die Gnade Gottes wird uns auch dann annehmen, wenn wir dem Ruf von Jesus Christus nicht gefolgt sind, und wenn wir den Weckruf: Wachet! überhört haben.

Aber für uns und für unsere lieblose Welt wäre dies ein Verlust. Dieser Wecker kann unser Leben verändern.

Das Gedicht von Fritz Philippi hat uns den täglichen Maßstab für jeden Abend geliefert, wenn es fragt:

Er ist dahin, dein Tag.

Unwiederbringlich. Sag,

was hast du, Mensch, mit ihm gemacht?

Es wäre schade um uns, wenn wir auf diese Frage keine gute Antwort wüssten.

DU, weck uns auf und lass uns offen und aufmerksam leben, mit Liebe aneinander interessiert und geborgen in die Wachsamkeit von lieben Menschen,

denn Dein Friede, der höher ist denn alle unsre Vernunft, er bewahre unsre Herzen und Sinne in Christo Jesu, Amen.