Am 10. Juni 2007, dem 1. Sonntag nach
Trinitatis, predigt Pfarrer Ralf-Andreas Gmelin zum Predigtauftrag aus
dem Matthäusevangelium, Mt 9,35-10,7
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die
Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen!
Lasst uns hören auf die Geschichte von der großen Ernte, die
das Matthäusevangelium erzählt:
35 Die große Ernte
Und Jesus ging ringsum in alle Städte und Dörfer,
lehrte in ihren Synagogen
und predigte das Evangelium von dem Reich
und heilte alle Krankheiten und alle Gebrechen.
Und als er das Volk sah, jammerte es ihn;
denn sie waren verschmachtet
und zerstreut wie die Schafe,
die keinen Hirten haben.
Da sprach er zu seinen Jüngern:
Die Ernte ist groß, aber wenige sind der Arbeiter.
Darum bittet den Herrn der Ernte,
daß er Arbeiter in seine Ernte sende.
Und er rief seine zwölf Jünger zu sich
und gab ihnen Macht über die unreinen Geister,
daß sie die austrieben und heilten alle Krankheiten und alle
Gebrechen.
Die Namen aber der zwölf Apostel sind diese:
zuerst Simon, genannt Petrus, und Andreas, sein Bruder; Jakobus, der
Sohn des Zebedäus, und Johannes, sein Bruder;
Philippus und Bartholomäus;
Thomas und Matthäus, der Zöllner;
Jakobus, der Sohn des Alphäus, und Thaddäus;
Simon Kananäus und Judas Iskariot, der ihn übergab.
Diese Zwölf sandte Jesus aus, gebot ihnen und sprach:
Geht nicht den Weg zu den Heiden
und zieht in keine Stadt der Samariter,
sondern geht hin zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel.
Geht aber und predigt und sprecht:
Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.
HERR, tu meine Lippen auf, dass Mein Mund Deinen Ruhm verkündige.
Da, wo die verlorenen Schafe gute und heilsame Worte hören, da ist
das Himmelreich nahe herbei gekommen.
Liebe Gottesdienstgemeinde,
da könnte man fast mit Goethe entgegenen: Ich kann das Wort so
hoch unmöglich schätzen.
Dass gute Worte Himmel und Erde zusammenbringen, das ist eine
Vorstellung, die uns schon einiges abverlangt.
Und auch, was Jesus zu seinen Aposteln hier sagt, kommt uns – gerade
angesichts der Kirchengeschichte – fremd vor: „Geht nicht den Weg zu
den Heiden und zieht in keine Stadt der Samariter, sondern geht hin zu
den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel.“
Hat nicht gerade die Heidenmission das Christentum zur
größten Religion der Menschheitsgeschichte werden lassen?
Hatte Jesus nach diesen Worten nichts anderes als eine kleine
jüdische Reformsekte im Sinn?
Das Geschichtliche ist vergangen, wir müssen es nicht entscheiden.
Aber gerade in diesen Tagen, an denen wieder Tausende junger Christen
in Köln beim Kirchentag sind, wird eine andere Dimension dieser
Aussage deutlich und schärfer: Es lässt sich den Zeitungen
entnehmen, dass auf dem Kirchentag alle Probleme der Politik ratzfatz
mit gutem Willen gelöst werden: Ein bisschen Schuldenerlass, ein
bisschen guter Wille beim Klima, seid lieb zu Afrika und schon
läufts. Wenn nur die dummen Politiker nicht wären, die
solcher schlichter Wahrheit mit ihren sachkundigen Bedenken
entgegenstünden. Auffällig ist bei der Genialität des
versammelten Volkes die hochkomplexen globalen Probleme zu lösen,
dass die Fragen, die uns nahe liegen, kaum zu Worte kommen.
Mit Jesu Worten: Der Kirchentag ist nicht bei seiner Sach, er sucht
nicht nach den verlorenen Schafen des Hauses Israel, sondern er wildert
in den Revieren Samarias.
Was wird aus der evaneglischen Kirche?
Wofür steht die evangelische Kirche, wenn sie darauf verzichtet
den Lehrmeister der Politik zu geben?
Was ist an ihr evangelisch, wenn die Bibel ihr kaum noch die
Richtschnur ihrer Lehre ist?
Was bedeutet der rasante Schrumpfungsprozess, hinter dem nur noch
wenige evangelische Kinder stecken, die getauft und konfirmiert werden,
hinter dem wenig überzeugte Christen stecken, die nach der ersten
Steuererklärung aus der Kirche austreten und hinter dem eine
lähmende Indifferenz der evangelischen Kirche steckt, gerade, was
das Verschmachten und Zerstreuen ihrer Herde anbetrifft.
Am deutlichsten hebt sich die Kursänderung beim Thema Islam ab.
Bis vor wenigen Monaten konnten sich die Muslime fest auf die
evangelische Kirche verlassen, dass sie jeder Zumutung und jeder
Forderung der deutschen Muslime im Zuge einer Schmuseökumene
zustimmen wird. Wenn man den ehemaligen Islambeauftragten Jürgen
Miksch hört, dann hört man den Originalton dieser
Anpassungspolitik, die so tut, als sei der Islam im Grunde dasselbe wie
die christliche Religion und die den Islam als eine große,
weltweit operierende politische Bewegung nicht ernst nimmt. Das ist
vorbei und da ist dem Ratsvorsitzenden der EKD, Wolfgang Huber, zu
danken, dass er – zusammen mit anderen EKD-Größen einen
klaren Kurs hält, ohne sich um politische Korrektheiten zu
scheren.
Jesus sagt uns in dieser Geschichte, dass die Vollmacht, die er seinen
Jüngern erteilt, nur dort heilswirksam sein wird, wenn die
Jünger dort wirken, womit sie vertraut sind. Wenn das Evangelium
mit Vollmacht verkündigt wird, dann dort, wo Menschen sich nahe
sind. Nicht im Fernsehen, sondern in der Gemeinde. Nicht auf
Plakattafeln, sondern in der Familie.
Und wer es versucht, der spürt, dass hier wirklich der Heilige
Geist – oder sein fehlender Beistand spürbar wird, wenn ich mit
meinem Ehepartner über den Glauben spreche. Wenn ich meinem Kind
mitteilen will, was wirklich wichtig ist im Leben und im Sterben, dann
spüre ich ganz genau, was an meinem eigenen Glauben trägt –
und was nicht.
Der Gießener Philosoph, Odo Marquard, beklagte schon vor 30
Jahren in einem Aufsatz, dass es den Trend gäbe, nicht mehr ein
Gewissen zu haben, sondern ein Gewissen zu sein. Das bedeutet, dass ich
mich nicht mehr von meinem Gewissen anrühren lasse mit dem Ziel,
dass ich bereue und mich ändere;
Nein, ich werde das Gewissen meiner Kirche, meiner Gesellschaft, des
G8-Gipfels und bringe lautstark zur Geltung: Du musst dich ändern,
du musst bereuen, du musst tun, was ich für gut halte. Marquard
sagt dazu: „Die Kritik verdächtigt alles und klagt alles an und
sitzt über alles zu Gericht. Sie ist damit ein Schritt innerhalb
einer Tradition: denn erst – in der Religion – saß Gott über
die Menschen zu Gericht; dann – in der Theodizee – die Menschen
über Gott; dann – in der Kritik – die Menschen über sich
selber. Das Gericht der Kritik ist also Selbstgericht, und das ist
anstrengend: darum wählt die Kritik den Ausweg, dabei nicht der
Angeklagte zu sein, sondern der Ankläger; sie entlastet sich,
indem sie richtet, um nicht gerichtet zu werden.“ (O.M.:
„Inkompetenzkompensationskompetenz“)
Es ist kein Zufall, dass hier die Sprache Marquards den Klang des Neuen
Testaments annimmt. Jesus sagt – auch - im Matthäusevangelium:
„Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet.
Denn nach welchem Recht ihr richtet,
werdet ihr gerichtet werden;
und mit welchem Maß ihr meßt,
wird euch zugemessen werden.“ Mt 7,1f
Damit ist der Trend Gewissen zu sein, statt Gewissen zu haben bei dem
Gegenteil dessen angelangt, was Jesus uns Christen rät. Das
wäre nicht schlimm für die politischen Demonstranten, die
vier Wochen vor Heiligendamm zelten, um ihr Gewissensspiel zu spielen.
Es ist aber unter dem Dach der Kirche ein Problem, wenn der modische
Zeitgeist uns daran hindert, da zu wirken, wo wir Heil wirken
können:
Nicht die globalen Konflikte sind es, die zu lösen wir die
Vollmacht bekommen haben, sondern wir sollen in unserem eigenen Beritt
heilsam wirken: Im Gespräch mit unseren Kindern, im Dialog mit
unseren Ehepartnern und Freunden, in unserer Gemeinde und in unserer
Kirche.
Unsere Kinder werden uns nicht fragen, welche Stellung wir – folgenlos
- zu den globalen Problemen der Menschheit genommen haben. Sie werden
uns daran messen, ob es uns gelungen ist, die Kirche des Evangelium,
die Kirche der Gerechtigkeit und Freiheit zu sichern und ihre Botschaft
treu und aufrichtig zu verkünden. Sie werden uns fragen, ob wir
uns von der Botschaft des Evangeliums haben berühren lassen und ob
unser Lebensstil und unser Handeln damit übereinstimmen. - Das
wird in einer zunehmend islamischer geprägten Zukunft die Frucht
sein, von der Jesus- ebenfalls im Matthäusevanglium - sagt: „An
ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.“ Mt 7,20
Wir glauben daran, dass Himmel und Erde sich näher kommen
können; das geschieht da, wo Menschen im Vetrauen miteinander
Liebe, Glaube und Hoffnung leben und damit auch offen sind für die
Fragen, die über ihren Tellerrand hinaus ragen. Ein solches Leben
wünschen wir auch unserem Täufling, Leni hager und ihrer
Familie.
Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, er bewahre
eure Herzen und Sinne in Christo Jesu, Amen.