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Am Karfreitag 2006 erinnert die Passionsgeschichte aus dem Johannesevangelium an das Leiden und Sterben Jesu. Zuvor liest Ralf-Andreas Gmelin einen Ausschnitt aus Jean Pauls „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei“. Die Predigt geht vom Hebräerbrief (Hebr 9,28) aus:

„Ich erschrak über den giftigen Dampf, der dem Herzen dessen, der zum erstenmal in das atheistische Lehrgebäude tritt, erstickend entgegenzieht. Ich will mit geringeren Schmerzen die Unsterblichkeit als die Gottheit leugnen: mit der Unsterblichkeit verlier ich nichts als eine mit Nebeln bedeckte Welt, mit Gott verlier ich die gegenwärtige, nämlich die Sonne dieser Welt; das ganze geistige Universum wird durch die Hand des Atheismus zersprengt und zerschlagen in zahlenlose quecksilberne Punkte von Ichs, welche blinken, rinnen, irren, zusammen- und auseinanderfliehen, ohne Einheit und Bestand. Niemand ist im All so sehr allein als ein Gottesleugner — er trauert mit einem verwaisten Herzen, das, den größten Vater verloren, neben dem unermeßlichen Leichnam der Natur, den kein Weltgeist regt und zusammenhält, und der im Grabe wächst; und er trauert so lange, bis er sich selber abbröckelt von der Leiche. Die ganze Welt ruht vor ihm wie die große, halb im Sande liegende ägyptische Sphinx aus Stein; und das All ist die kalte eiserne Maske der gestaltlosen Ewigkeit. …

Die Kindheit, und noch mehr ihre Schrecken als ihre Entzückungen, nehmen im Traume wieder Flügel und Schimmer an und spielen wie Johanniswürmchen in der kleinen Nacht der Seele. Zerdrückt uns diese flatternden Funken nicht! - …

Ich lag einmal an einem Sommerabende vor der Sonne auf einem Berge und entschlief. Da träumte mir, ich erwachte auf dem Gottesacker. Die abrollenden Räder der Turmuhr, die elf Uhr schlug, hatten mich erweckt. Ich suchte im ausgeleerten Nachthimmel die Sonne, weil ich glaubte, eine Sonnenfinsternis verhülle sie mit dem Mond. Alle Gräber waren aufgetan, und die eisernen Türen des Gebeinhauses gingen unter unsichtbaren Händen auf und zu. An den Mauern flogen Schatten, die niemand warf, und andere Schatten gingen aufrecht in der bloßen Luft. … Ich ging durch unbekannte Schatten, denen alte Jahrhunderte aufgedrückt waren. Alle Schatten standen um den Altar, und allen zitterte und schlug statt des Herzens die Brust. …

Jetzo sank eine hohe edle Gestalt mit einem unvergänglichen Schmerz aus der Höhe auf den Altar hernieder, und alle Toten riefen: „Christus! ist kein Gott?“ Er antwortete: „Es ist keiner.“ Der ganze Schatten jedes Toten erbebte, nicht bloß die Brust allein, und einer um den andern wurde durch das Zittern zertrennt.

Christus fuhr fort: „Ich ging durch die Welten, ich stieg in die Sonnen und flog mit den Milchstraßen durch die Wüsten des Himmels; aber es ist kein Gott. Ich stieg herab, soweit das Sein seine Schatten wirft, und schauete in den Abgrund und rief: Vater, wo bist du?‘ aber ich hörte nur den ewigen Sturm, den niemand regiert, und der schimmernde Regenbogen aus Wesen stand ohne eine Sonne, die ihn schuf, über dem Abgrunde und tropfte hinunter. Und als ich aufblickte zur unermeßlichen Welt nach dem göttlichen Auge, starrte sie mich mit einer leeren bodenlosen Augenhöhle an; und die Ewigkeit lag auf dem Chaos und zernagte es und wiederkäuete sich. — Schreiet fort, Mißtöne, zerschreiet die Schatten; denn Er ist nicht!“

Die Vision vom gestorbenen Gott. Getötet von der kritischen Rechthaberei des Menschen. Eine aktuelle Apokalypse einer Apokalypse - aus dem Jahr 1796 von Jean Paul, dem fränkischen Dichter. – Roman Siebenkäs.


Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und dem HERRn Jesus Christus.

 „So ist auch Christus einmal geopfert worden, die Sünden vieler wegzunehmen; zum zweiten Mal wird er nicht der Sünde wegen erscheinen, sondern denen, die auf ihn warten, zum Heil.“ (Hebr 9,28)

Jesus Christus ist Opfer meiner Sünden:
Jesus Christus, er stirbt am Kreuz.

Ein Ärgernis, eine Zumutung, eine Provokation. -Zum Glück weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit diskutieren derzeit einige evangelische Theologinnen und Theologen dieses Ärgernis weg: Durch den Tod könne ja doch wirklich nicht das Heil in die Welt gekommen sein. Und gerade bei der Ernsthaftigkeit, bei der Verbissenheit, mit der Menschen Jesus vom Kreuz holen wollen, wird deutlich: Sie möchten seine Auferstehung verhindern. Es gehört zu den alten Rechnungen seit Paulus, die wir immer noch aufmachen müssen:

Christentum minus Kreuz und Auferstehung ist gleich Null.

Wer Jesus vor seinem Tod am Kreuz retten will, wer dieses Opfer als peinlich, falsch, zu männlich, oder sonst wie anstößig oder politisch inkorrekt betrachtet, der löscht das Christentum aus. Weil Paulus an der Wiege des Christentums gestanden hat, wird er von manchem heute gleich mit über Bord geworfen. Und dann dümpelt das Schiff der evangelischen Kirche ohne Kapitän und Steuermann durch schwere See und man könnte getrost die Hände in den Schoß legen, denn wenn ein Schiff sich selber aufgibt, weil es seine Leitfiguren über Bord geworfen hat, dann braucht es im Sturm nur noch geduldig auf seinen Untergang zu warten.

Jesus Christus ist für Dich gestorben.
Jesus Christus ist für mich gestorben.
In diesen Sätzen erklingt das Heilmittel gegen eine steuerlos dahin dümpelnde Kirche.

Aber ich kann mich durchaus erinnern, wie böse ich als Kind war, als ich diese Sätze gehört hatte: Wieso stirbt Jesus für mich? Ich wollte doch gar nicht, dass er stirbt. Und als Kind hatte ich auch kein Verständnis dafür, welchen Beitrag ich für die Gesamtsünde der Menschheit geleistet haben sollte. Und dieses kindliche Aufbegehren steckt hinter dem Protest gegen den Karfreitag. Was bei einem Kind der Ausdruck eines natürlichen Gerechtigkeitsempfindens ist, das ist bei erwachsenen Menschen Ausdruck einer Unfähigkeit, erwachsen zu werden. Wenn Sie es böse ausdrücken wollen: Ein Zeichen infantiler Verweigerung.

Von uns wird erwartet, dass wir uns unter das Kreuz stellen. Von uns kann das erwartet werden, weil wir mit diesem Kreuz verbunden sind: Durch unsere Taufe ist das Kreuz ein Teil von uns. Das Opfer Jesu bekommt dadurch seinen Sinn, dass es geschieht, um uns die Angst vor dem Tod zu nehmen. Gegen den Tod hilft keine einschmeichelnde Schmusebotschaft, sondern gegen den Tod hilft nur das Vertrauen in den Herrn des Lebens, radikal und ohne Hintertür.

Und das gilt besonders, da wir im Meer unserer Zeit von Göttern umspült sind, die nicht Gott des Lebens sind, sondern Götter des Todes. Am Tag nach dem Gerichtsurteil gegen den Täter eines feigen Mordes, der auch fälschlich „Ehrenmord“ genannt wird, haben wir die Frage zu stellen, welcher Gott einem Bruder befiehlt, seine Schwester nieder zu schießen. In der vergangenen Woche hat endlich eine Bischöfin unserer Kirche zu dem Skandal öffentlich Stellung genommen, dass alle Muslime, die sich taufen lassen mit einer Todesstrafe belegt werden, die jeder Moslem vollstrecken darf. Christen in muslimischen Kulturen können weltweit erleben, was ein solches Bekenntnis zur Folge hat.

Und hier geht es nicht um Ausländerfeindschaft, hier geht es nicht um Bürgerrechte, hier geht es nicht um Multikulti oder Toleranz: Hier geht es um die theologische Frage: Welcher Gott verlangt von seinen Anhängern Mord? Und für uns als Christen bedeutet das: Wie haben die damit umzugehen, die sich auf den Tod von Jesus Christus berufen? Was für eine Toleranz gilt denen, die als Antwort auf Abweichung vor dem Tod nicht zurückschrecken?

Diese Antwort kann nicht leichtfertig gegeben werden. Und wer Muslime in das Kreuzfeuer der Kritik stellt, darf auch nicht verschweigen, dass zur gleichen Zeit eine atomare Großmacht, die sich auf den christlichen Glauben beruft, zeigt, dass Lüge und Verrat ihre politische und militärische Spitze verdorben haben. In der Rückschau der anhängigen Untersuchungen und Prozesse zeigt sich der Irakkrieg, den die USA geführt haben, als eine mörderische Aktion, deren Gott das Öl ist. Schrecklich ist, dass die verkommene Moral der Supermacht USA es den persischen Machthabern leicht macht, sich auch dem Kreis atomarer Mächte zugehörig zu fühlen.

„Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen.“ Martin Luther hat das mittelalterliche Lied „Media vita in morte sumus“ 1524 ins Deutsche übertragen und wer Augen hat zu sehen, entdeckt die tiefe Aktualität, die Hilfe allein von Gott erwartet.

Christus am Kreuz sagt uns zu: „Ich bin für Euch gestorben, damit ihr von der Sünde befreit werdet, die Euch zum Tod verdammt.“ Die Sünde ist die Schere, mit der wir uns von der Nabelschnur Gottes schneiden. Diese Nebelschnur des Glaubens versorgt uns mit Gerechtigkeitssinn, Friedensliebe, Demut und Liebe. Und jede Tötung, jeder Mord, jeder Hass ist ganz direkt und unmittelbar Ausdruck der Sünde des Menschen, der nicht begreifen will, dass allein Gott uns mit diesen Gaben des Lebens versorgt: Er ruft ins Leben und er ruft uns auch aus dem Leben.

Sich um den toten Christus am Kreuz herumdrücken, das löst die Radikalität auf, mit der der Gott am Kreuz uns auf das Leben verweist:
Ich lebe und du sollst auch leben.
In diesem Satz fügt sich Karfreitag und Ostern, Kreuz und Auferstehung zusammen.

Wir stehen unter dem Kreuz
und sehen den sterbenden Christus.
Wir sehen den Gott, der den schändlichen Tod nicht scheut.

Und wir sehen Menschen,
die sich um diesen Augenblick drücken,
die niemals an Karfreitag in die Kirche gehen,
die ihre eigenen Gottheiten aufrichten,
die das Leben gering schätzen.

Noch niemals gab es auf der Erde so viel menschliches Leben.
Noch niemals hat die Erde und die Menschheit so sehr die Botschaft vom Tode Gottes gebraucht: „Ich lebe und du sollst auch leben.“

Jesus Christus, mach uns zu glaubwürdigen Zeugen des Lebens, denn DU bist für unser Leben gestorben, denn dein Friede, welcher höher ist denn alle Vernunft, bewahre unsre Herzen und Sinne in Christo, Jesu, Amen.