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Am Sonntag Miserikordias Domini, den 10. April 2005 hält Ralf-Andreas die folgende Predigt, die auch zu der Ausstellungseröffnung durch Prof. Dr. Bernd Hey „Gerstein, ein Leben im Widerstand“ Stellung bezieht:

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und dem HERRn Jesus Christus.

Der Predigttext ist aus dem Buch Hesekiel 34,1-31.
Und des HERRN Wort geschah zu mir:
Du Menschenkind, weissage gegen die Hirten Israels, weissage und sprich zu ihnen:
So spricht Gott der HERR:
Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden! Sollen die Hirten nicht die Herde weiden?
Aber ihr eßt das Fett und kleidet euch mit der Wolle und schlachtet das Gemästete,
aber die Schafe wollt ihr nicht weiden.
Das Schwache stärkt ihr nicht,
und das Kranke heilt ihr nicht,
das Verwundete verbindet ihr nicht,
das Verirrte holt ihr nicht zurück,
und das Verlorene sucht ihr nicht;
das Starke aber tretet ihr nieder mit Gewalt.
Und meine Schafe sind zerstreut,
weil sie keinen Hirten haben,
und sind allen wilden Tieren zum Fraß geworden und zerstreut.
Sie irren umher auf allen Bergen und auf allen hohen Hügeln und sind über das ganze Land zerstreut, und niemand ist da, der nach ihnen fragt oder auf sie achtet.
Darum hört, ihr Hirten, des HERRN Wort!
So wahr ich lebe, spricht Gott der HERR:
weil meine Schafe zum Raub geworden sind
und meine Herde zum Fraß für alle wilden Tiere, weil sie keinen Hirten hatten
und meine Hirten nach meiner Herde nicht fragten, sondern die Hirten sich selbst weideten, aber meine Schafe nicht weideten,
darum, ihr Hirten, hört des HERRN Wort!
So spricht Gott der HERR:
Siehe, ich will an die Hirten und will meine Herde von ihren Händen fordern;
ich will ein Ende damit machen,
daß sie Hirten sind,
und sie sollen sich nicht mehr selbst weiden.

Ich selbst will meine Schafe weiden, und ich will sie lagern lassen, spricht Gott der HERR.
Ich will das Verlorene wieder suchen
und das Verirrte zurückbringen
und das Verwundete verbinden
und das Schwache stärken und,
was fett und stark ist, behüten;
ich will sie weiden, wie es recht ist. …
Ja, ihr sollt meine Herde sein,
die Herde meiner Weide,
und ich will euer Gott sein,
spricht Gott der HERR.

Herr, tu meine Lippen auf, dass mein Mund Deinen Ruhm verkündige.


Liebe Gottesdienstgemeinde,

Hirten, die nur auf ihr eigenes Wohlergehen achten, denen es zu lästig ist, den Schafen hinterher zu rennen und die lieber sanft und weich auf ihren Kissen liegen. Die Geschichte ist voll von solchen Beispielen. Das Schöne an der Beschäftigung mit den alten Zeiten ist, dass man weiß wie es ausgegangen ist. Im Nachhinein lässt sich die Welt wunderbar sortieren: In die Guten, die schon damals auf der richtigen Seite standen und in die Bösen, die auf das gesetzt hatten, was durch die Geschichte zum Verlierer wurde.

Die Geschichte aus dem Buch des Propheten Hesekiel lässt sich darum auch wunderbar auf das so genannte Dritte Reich anwenden: Die korrupten mörderischen Nazis, die nur sich selbst weiden und die ihnen anvertrauten Schafe vergessen – oder umbringen. Und aus diesem Blickwinkel kann man den gegenwärtigen Bundesminister des Auswärtigen verstehen, wenn er allen ehemaligen Mitarbeitern ein ehrendes Andenken versagt, wenn sie in dieser Zeit der falschen Hirten zur braunen Herde der Parteimitglieder der NsdAP gehört haben.

Gut, dass Kurt Gerstein niemals dem diplomatischen Corps angehört hat. Er hat seine Diplomatie auf eigene Faust und auf eigene Rechnung und auf eigenes Risiko betrieben. Unter der heutigen Regelung dürfte seiner im Berliner Auswärtigen Amt nicht gedacht werden: Er war Mitglied der NsdAP. Allerdings wurde er als unzuverlässig gefeuert, weil er seinen Glauben nicht auf dem Altar des Führerkultes geopfert hat.

Aber dann war er noch Mitglied der SS. Das hat schon Zeitgenossen befremdet, das wäre heute im Auswärtigen Amt sicherlich ein Grund, ihn höchstens noch im Kleingedruckten zu erwähnen, wenn überhaupt. Der Grund für seinen Eintritt war, dass er der mörderischen Maschinerie in den Arm fallen wollte.

Bei der Betrachtung der Welt im Nachhinein können wir über die Gründe hinwegsehen, wir können unsere Vorlieben in eine fremde Zeit projizieren und wir können politische Korrektheiten aufstellen, die uns selbst als Saubermann dastehen lassen. Aber jetzt und hier, am Sonntag Miserikordias Domini in der Wiesbadener Ringkirche geht es nicht um Kritik an Berliner Regierungsangehörigen, - aber es geht auch nicht um den historisch korrekten Blick auf vergangene Zeiten.

Wenn uns die Prophezeihung des Propheten Hesekiel zugesprochen wird, dann geht es um unsere Gegenwart: Wo bin ich selber Hirte? Wo habe ich mit meinem Beispiel, mit meiner Haltung, mit meinen Äußerungen eine Richtung vorzugeben? Wo habe ich als Hirte versagt? Wo habe ich mich in mein Alltagsgeschäft hineingebohrt, dass ich nicht mehr merke, wie ich mich nur noch selber hüte? Wo orientiert sich jemand nach mir und ich habe ihm nicht dem Weg zu gelingendem Leben gezeigt?

Als Pfarrer, dessen Berufsbezeichnung dem Schafhirten direkt abgeschaut ist, fällt es mir besonders leicht, da nach Antworten zu suchen. Ich habe mit meiner Verkündigung, aber auch mit meiner Lebenshaltung und mit allen Konsequenzen dafür einzustehen, dass ein christliches Leben gelingen kann - und dass es lebbar ist. Werde ich dem gerecht? Ich habe nicht den Massen nach dem Munde zu reden, ich habe nicht auf Meinungsumfragen und Fastnachtsvereine zu hören, sondern muss geradeaus meinem Gewissen und der Heiligen Schrift folgen. Habe ich das immer getan? Oder habe ich mir selbst immer wieder ein Auge zugedrückt, wenn ich zu feige war, zum aufrechten Gang?

Ich bin sicher, an irgendeiner Stelle hat jede und jeder von uns gegenüber einem anderen Menschen diese Hirtenfunktion.  Und uns wird gesagt:
„So spricht Gott der HERR:
Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden! Sollen die Hirten nicht die Herde weiden?
Aber ihr esst das Fett und kleidet euch mit der Wolle und schlachtet das Gemästete,
aber die Schafe wollt ihr nicht weiden.
Das Schwache stärkt ihr nicht,
und das Kranke heilt ihr nicht,
das Verwundete verbindet ihr nicht,
das Verirrte holt ihr nicht zurück,
und das Verlorene sucht ihr nicht;
das Starke aber tretet ihr nieder mit Gewalt.
Und meine Schafe sind zerstreut,
weil sie keinen Hirten haben,
und sind allen wilden Tieren zum Fraß geworden und zerstreut.“

Diese große Mahnung wird zum harmlosen Kindermärchen, wenn wir sie nur auf vergangene Zeiten anwenden: Es ist leicht und völlig folgenlos in den korrupten Hirten die Naziherrscher zu erkennen, die öffentlich Wasser predigten und heimlich Wein tranken.

Diese große Mahnung wird zum bloßen rhetorischen Wortgeklingel, wenn ich sie gegen die heutigen Politiker, oder auch allein gegen die heutigen Pfarrer anwende. Der Bischof von Rom, den die größte christliche Kirche der Erde als den Superhirten anerkennt, den Hirten aller Hirten und größten Brückenbauer, er muss sich an seiner Totenbahre gefallen lassen, dass ihm jeder einen Stein hinterherwerfen darf: Runde freundliche Steine oder spitze, gemeine Steine. Johannes Paul II., der am Freitag in Rom beigesetzt wurde, war ein großer Hirte und darum verträgt er auch, dass seine Nachwelt ihn zu beurteilen versucht.

Aber auch hier gilt, dass sich die Kraft dieses Textes erst dann entfaltet, wenn er nicht auf einen vereinzelten Hirten konzentriert wird, sondern wenn ich mich selber frage, wo ich das Hirtenamt ausfülle: Als Konfirmandin mit 13 Jahren; gibt es wirklich niemanden, der sich an mir orientiert, an meiner Lebensfreude oder an meinem Ernst? Als alter Mensch, der allein sein Leben führt; habe ich nicht den alten Freund vergessen, der an mir sieht, dass es sich zu Leben lohnt, auch wenn Schmerzen und Krankheiten manches erschweren?

Auch in religiöser Hinsicht führen wir ein Leben, das ein Beispiel gibt. Das ist die Rückseite der „multikulturellen Gesellschaft“. Was sehen Muslime, Juden oder Buddhisten, wenn sie uns Christen in unserem Alltag beobachten? Es ist heute nicht mehr egal, was wir in unserem Land machen. Die Menschen in unserem Land, die anderen Glaubens sind, rechnen alles Versagen, jedes asoziale Verhalten, jeden Säufer an der Straßenecke und rüpelhafte Volksfeste unserem Glauben zu: So sieht also eine christliche Kultur aus. – Da ist jeder von uns Hirte.

Das spiegelt sich in einer jüngsten Meinungsumfrage: Das darin ermittelte Bild zeigt, dass wir Deutsche lieber Hirte als Schaf sind: Zwar geben wir Deutschen  noch mehrheitlich an, dass wir gläubige Menschen seien. So antworten 65 Prozent mit Ja, wenn sie gefragt werden, ob sie an einen Gott glauben; 33 Prozent sagen, sie glauben nicht an Gott (Repräsentative Umfrage von TNS Emnid im Auftrag der Monatszeitschrift "Reader's Digest" unter 1001 Deutschen). 61 Prozent ist jedoch der Auffassung, dass Glaube reine Privatsache sei: weder die Kirchen noch religiöse Gemeinschaften könnten über Glaubensinhalte entscheiden.  Im Klartext: 61 Prozent meinen so mündig zu sein, dass sie Hirte sein können ohne einen Hirten zu brauchen. Ich weiß, was zu glauben ist und da lasse ich mir nicht hinein reden.

Wer einen zaghaften Blick in die Welt christlicher Glaubensüberzeugungen getan hat, wer die zahllosen Beispiele aus der Geschichte  kennt, in denen sich persönlich integre Menschen auf abstruse Abwege haben ziehen lassen und zu fragwürdigen Handlungen haben verführen lassen, dem schmeckt diese Einschätzung bitter auf der Zunge.

Das Leben von Kurt Gerstein war geprägt von der direkten Berührung mit den großen christlichen Kirchen. Die eine, die evangelische, blieb ratlos und zögerlich, weil sie den offenen Bruch mit dem Unrechtsstaat scheute und die andere – die Kirche von Rom - war  unter ihrem damaligen Papst den moralischen, politischen und christlichen Anforderungen nicht gewachsen und verhielt sich – trotz ihrer weltweiten Beziehungen - erbärmlich. Kirchen sind nicht unfehlbar und gerade Päpste haben sich in der Geschichte immer als gute Beispiele menschlicher Fehlbarkeit erwiesen. Aber was sie wertvoll macht, was sie zu dem Hirtenamt befähigt, ist das immer wieder erneute Fragen nach dem, was Gott will; nach dem, was dem Leben dient, das Gott uns geschenkt hat.

Die Christenheit braucht keine Hirten, die behaupten, sie hätten Gottes ganze Wahrheit zu ihrer Verfügung. Leider steht in Rom nicht zu erwarten, dass das Konklave einen Papst bestimmen wird, der den „Schatz des Glaubens“ im leidenschaftlichen Gebet suchen wird. Dann wäre die römische und die evangelische Christenheit  nur noch in Nebensächlichkeiten getrennt. Leider zeigt die Glaubensumfrage aus dem Deutschland unserer Tage, dass die evangelische Verkündigung nach fünfhundert Jahren kaum mehr Spuren im Glaubensbewusstsein der Menschen hinterlassen hat. Umso wichtiger sind in dieser Situation lebendige Vorbilder, an deren Leben wir den Ernst des christlichen Glaubens ablesen können.

Kurt Gerstein ist seinem christlichen Glauben treu geblieben. Er hat sein Hirtenamt ausgeübt ohne es zu verraten. Er hat auch Fehler gemacht und Sachverhalte falsch eingeschätzt. In seiner Glaubenstreue ist er ein Vorbild. In seinem leidenschaftlichen Ringen um das, was Gott in unserer Zeit will, ist er ein leuchtendes Beispiel.

In diesen Wochen nach Ostern, in diesen Tagen, wo Millionen Menschen von einem verstorbenen Menschen Abschied genommen haben, der ein christlicher Hirte gewesen ist, darf gefragt werden: „Wo ist dieser Christus, von dem wir sagen: Er ist erstanden?“ Wird er in der Taufe erlebbar, kommt er mir im Konfirmandenunterricht nahe, hilft mir der Religionsunterricht ihn zu finden? Ist dieser Gottesdienst der Ort, wo ich ihm begegne?

Jesus Christus ist dort lebendig spürbar und wirkungsmächtig, wo Christen leidenschaftlich nach Gott fragen. Da wo Konfirmandinnen und Konfirmanden geduldig aber gelangweilt ihre Stunden absitzen, wird Christus für sie nicht lebendig. Ich wünsche mir, dass jeder von uns erkennt, wo wir als Hirte wichtig sind. Und dass wir uns an die Mahnungen erinnern, die Hesekiel uns auf den Weg gibt: Denn so bedrohlich das für uns Hirten klingen mag: Am Ende sagt Gott zu, dass ER unser Hirte sein will. Und zwar ein Hirte, auf den wir uns verlassen können. Dass Jesus Christus unser guter Hirte ist, der uns den Weg zeigt, weil wir leidenschaftlich nach ihm fragen, das wünsche ich uns allen.

Zeig DU uns den Weg als unser guter Hirte, denn dein  Friede, welcher höher ist denn alle Vernunft, bewahre unsre Herzen und Sinne in Christo, Jesu, Amen.