Am Sonntag Okuli predigt Ralf-Andreas
Gmelin zu der Geschichte vom „Scherflein der Witwe“, Markus 12, 41 – 44:
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die
Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen!
Erinnern Sie sich an die Radikalität, mit der Jesus Menschen
geschockt hat, die doch eigentlich mit ihm kommen wollten?
Lasst die Toten ihre Toten begraben.
Wer seine Hand an den Pflug legt und
sieht zurück,
der ist nicht geschickt für das
Reich Gottes.
Diesen harten und wenig entgegenkommenden Geschichten setzt der
Bericht aus dem Markusevangelium noch eins drauf (Markusevangelium 12,
41 - 44). Es ist die Geschichte von dem „Scherflein der Witwe“:
Und Jesus setzte sich dem
Gotteskasten gegenüber und sah zu, wie das Volk Geld einlegte in
den Gotteskasten. Und viele Reiche legten viel ein.
Und es kam eine arme Witwe und legte
zwei Scherflein ein; das macht zusammen einen Pfennig.
Und er rief seine Jünger zu sich
und sprach zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch:
Diese arme Witwe hat mehr in den
Gotteskasten gelegt als alle, die etwas eingelegt haben.
Denn sie haben alle etwas von ihrem
Überfluss eingelegt; diese aber hat von ihrer Armut ihre ganze
Habe eingelegt, alles, was sie zum Leben hatte.
Herr, tu meine Lippen auf, dass mein Mund deinen Ruhm verkündige.
„Wenn zwei dasselbe tun, ist es noch lange nicht dasselbe.“
Dieser Satz aus einer Komödie des alten lateinischen Dichters
Terenz klingt wie die Zusammenfassung dieser Geschichte von Jesus. Aber
es ist anders: Die Komödie vergleicht, wenn zwei dasselbe tun.
Jesus sieht Menschen, die sich unterschiedlich verhalten: Einige werfen
viel in die Spendenbüchse und andere geben wenig in den
Opferstock. Jesus schaut ungeniert auf zwei Cent von einer Frau, der er
ansieht, dass sie jetzt nichts mehr hat, überhaupt nichts. Sie
hätte einen der zwei Münzen behalten können. Aber nein:
Sie gibt alles.
Und das bedeutet die Härte und Schroffheit dieser Geschichte. Ob
einer viel oder wenig in die Opferbüchse legt, ist vollkommen
egal. Der Unterschied ist, ob jemand ein bisschen hineintut, oder
radikal: Alles!
Es geht in dieser Geschichte nicht um die Kirchensteuer. Es geht
nicht um 9,5 Prozent der Einkommenssteuer, sondern um 100 Prozent des
gesamten Vermögens! Und damit geht es gar nicht mehr ums Geld.
Es geht hier um Vertrauen: Ich vertraue alles, meine Zukunft und meine
Ernährung dem Himmel an. Die anderen haben bloß Geld
gegeben. Und wir wissen alle: Dass ist schon schwierig genug.
Die arme Witwe gibt alles weg
und legt ihr Leben in Gottes Hand.
„Wenn zwei dasselbe tun, ist es noch lange nicht dasselbe.“
Zwei Cent gelten nur, wenn es alles ist,
was ich habe.
Dann ist mein Geben Ausdruck meines unerschütterlichen Vertrauens.
Und das macht diese Geschichte so schroff, so unnahbar. Sie
demonstriert uns, dass die Welt des Glaubens eine radikal andere Welt
ist als die Welt draußen: Für die Welt draußen ist das
Tun der armen Witwe Ausdruck von Weltfremdheit und
Lebensunfähigkeit.
Aber der Glaube richtet sich nicht nach dem Urteil der Welt.
Ich habe in der vergangenen Woche den Film „Die letzten Tage“ über
Sophie Scholl gesehen. Eine wirklich eindrucksvolle Darstellung des
Widerstands im Dritten Reich. Mit filmischen Mitteln und einer
beeindruckenden Hauptdarstellerin gelang es, die altbekannte Geschichte
ganz neu in das Interesse unserer Zeit zu heben. Aber abgesehen von den
Gefühlen und Eindrücken, die uns als Zuschauer packen, wenn
ein junger Mensch von einem Unrechtsregime ermordet wird: Sophie Scholl
und ihr Bruder sind uns so fremd wie die arme Witwe vor den Augen des
Jesus: Sie sind bereit, für das, was sie für wahr halten,
für ihren Glauben, der wichtiger ist als die Widerstände in
dieser Welt alles zu geben, was sie haben. Nicht nur Geld, sondern ihr
Leben.
Diese Radikalität haben in unserer Welt Menschen, die uns alles
andere als sympathisch sind: Religiös motivierte Eiferer, die auf
den Fahndungslisten des Terrorismus stehen.
Jesus möchte, dass wir zu solcher Radikalität bereit sind. Er
möchte, dass wir uns ganz, mit Haut und Haar und allem was wir
haben, ihm zuwenden, der Welt Gottes, dem Reich Gottes.
Im Reich Gottes ist die arme Witwe eine große,
bewunderungswürdige Frau. Im Reich Gottes ist Sophie Scholl eine
vorbildliche Christin. Und im Reich Gottes werden wir gefragt, ob wir
zu einer Nachfolge bereit sind, die sich an dem Vorbild Jesu orientiert.
„Niemand hat größere Liebe als die, daß er sein Leben
läßt für seine Freunde.“ Dieses Wort aus dem
Johannesevanglium (15,13) gibt der Gefängnisgeistliche den
Geschwistern Scholl mit, als sie nach ihrer Verurteilung zum Schafott
gehen. Unsere Kirche soll eine Einrichtung sein, die in diese Nachfolge
ruft. Sie steht in dieser Welt und funktioniert wie diese Welt. Aber
wenn wir Menschen in den Dienst rufen, in dieser Kirche zu wirken und
für sie zu handeln, dann liegt das Ziel nicht mehr in dieser Welt,
sondern dann werden wir in die Nachfolge gerufen, die uns ganz
beansprucht.
Wir taugen vielleicht nicht, diesem Anspruch in jedem Augenblick
gerecht zu werden. Aber als Kirche, die sich auf Jesus Christus
beruft, haben wir uns gegenseitig immer wieder an diesen
radikalen Anspruch zu erinnern. Denn gerade auch im Versagen brauchen
wir Gott, damit er uns vergibt, wenn wir den bequemen Weg vorgezogen
haben.
Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, er bewahre
eure Herzen und Sinne in Christo Jesu , Amen.