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Am 10. Sonntag nach Trinitatis, am 31. Juli 2005 vergleicht Ralf-Andreas Gmelin das Menschenbild des Dalai Lama mit den Vorstellungen, die Paulus im Römerbrief entwickelt.

Begrüßung:
Meinen Sie Zürich zum Beispiel
Sei eine tiefere Stadt,
wo man Wunder und Weihen
immer als Inhalt hat?

Meinen Sie, aus Havanna
Weiß und hibiskusrot,
bräche das ewige Manna
für Ihre Wüstennot?

Bahnhofstraßen und Rueen
Boulevards, Lidos, Laan –
Selbst die Fifth Avenuuen
Fällt Sie die Leere an-

Ach, vergeblich das fahren!
Spät erst erfahren Sie sich:
Bleiben und stille bewahren
Das sich umgrenzende Ich.


Mit diesem leise boshaften und klugen Gedicht von Gottfried Benn begrüße ich Sie heute am 10. Sonntag nach Trinitatis am letzten Tag im Sommermonat Juli.

Der 10. Sonntag nach Trinitatis wird in manchen evangelischen Kirchen als „Gedenktag der Zerstörung Jerusalems“ gefeiert. Dieser Gedenktag hat eine zweifelhafte Tradition und ich folge ihr nicht. Wir werden in diesem Gottesdienst nicht auf diese Reise in die Vergangenheit gehen und darüber spekulieren, was Gott veranlasst haben könnte, die jüdische Hauptstadt samt ihrer jüdischen Bevölkerung von römischen Truppen niedermetzeln zu lassen. Auch die neuere Tradition aus diesem Sonntag einen Holocaust-Gedenktag zu machen, ist meines Erachtens für dieses Datum unpassend und damit keine Reise, die ich heute mit Ihnen machen möchte. Im Sinne der Zeilen von Gottfried Benn:

Ach, vergeblich das fahren!
Spät erst erfahren Sie sich:
Bleiben und stille bewahren
Das sich umgrenzende Ich.

Auf der Suche nach dem christlichen Ich, seinen Grenzen und Horizonten möchte ich mich mit Ihnen heute „bleiben und stille bewahren“:


Liebe Gottesdienstgemeinde,
um die 20.000 Menschen versammelten sich in dieser Woche im Kurpark um einer Rede zu lauschen, die der religiöse Führer eines kleinen Volkes gehalten hat: Der Dalai Lama richtete das Wort an die deutsche Bevölkerung, die geduldig und friedlich eine Stunde in der Schlange gewartet hatte, um auf der grünen Wiese den tibetischen Worten zuzuhören, die dann jeweils ins Deutsche übersetzt wurden.

Was der Dalai Lama aufzeichnete, ist der Weg zu Friede und Freundlichkeit: Und wie schon die ersten Christen feststellten, als sie zum ersten Mal buddhistische Inder kennen lernten, es klingt uns alles sehr vertraut: „Was wir dringend brauchen in unserer Zeit, das ist liebende Zuwendung.“ Welcher Christ wollte da widersprechen? Durch die geistig-geistliche Vereinzelung, durch unsere Isolierung begeben wir uns in das Gefängnis des Hasses. Wir haben nur das Eine im Blick und weil wir es – dieses Eine – vom Rest der Welt gefährdet sehen, sind wir aggressiv und voller Hass. Erst wenn es gelingt die Vereinzelung zu überwinden, wenn wir im Frieden mit der ganzen Welt leben wollen, wenn sich unser Blick zu einer holistischen Perspektive weitet, dann wirkt das auf uns und auf unsere Mitmenschen, weil wir dann zum Frieden fähig sind und weil wir dann dem Rest der Welt mit Freundlichkeit begegnen können.

Liebe Gottesdienstgemeinde,
wenn ich das so flott zusammenfasse, dann sind Sie vielleicht froh, dass Sie nicht stundenlang im Park gewartet haben, um den weltberühmten Mann zu hören. Aber fast 20.000 Menschen sind dort gewesen, haben es auf sich genommen, um sich vom Dalai Lama sagen zu lassen: Ich bin ein ganz normaler Mensch, der zu ganz normalen Menschen spricht. Ich will auch nicht, dass Sie mir folgen, sondern Sie sind allein verantwortlich für Ihre Lebenseinstellung. - So ein bisschen war ich erinnert an die Veranstaltung in der Ringkirche im Januar, als Pater Anselm Grün hier vor 1000 Menschen eine Rede gehalten hat. Nicht der Inhalt der Rede war der Grund, sondern die Hoffnung, dass von einem Menschen, der dies sagt, ein Funke überspringt. Anselm Grün hat gesagt, was meines Erachtens gute katholische Lehrmeinung ist und was – vielleicht etwas weniger konzentriert – hier von jeder römischen Kanzel verkündigt wird. Das heißt für die vielen, die dennoch gerade ihn hören wollen: Nicht die Worte und Sätze, nicht die Aussagen und die Argumentation machen diese Wortereignisse zur attraktiven Veranstaltung, sondern die Glaubwürdigkeit des Redners. - Und wer wollte sich dem Charme eines Menschen entziehen, der wie der Dalai Lama jeden Morgen um drei Uhr meditiert, bevor er sein Tagwerk beginnt?

Was diesem Menschen abzuspüren ist, macht schon Freude: Er setzt sich auf seinen würdigen roten Plüschsessel mit der Begründung: „Ich möchte mich jetzt setzen, und Sie haben mich ja jetzt genug gesehen.“ Dann ab und zu, während der umständlichen deutschen Übersetzungen, schaut er ironisch in die Menge, kratzt sich ohne sich an die albernen Vorschriften öffentlicher Veranstaltungen zu halten oder lehnt sich bequem zurück, unabhängig davon, dass die Fernsehkameras sein Bild in Millionen Haushalte transportieren.

Diese netten Faxen sind es eigentlich, die den Kurpark zu einer Bühne machen, auf der 20.000 Menschen etwas suchen, von dem sie vielleicht selbst nicht wissen, was. Vielleicht ist dies die Sehnsucht, dass da einer ist, der mit seinem Leben für seine Botschaft einsteht. Dass dies etwas Großes ist, wenn ein Mensch mit seinem Leben für die Botschaft einsteht, die er anderen bringt, das bezeugen die vier Evangelien von Jesus Christus. Jesus Christus führt das Leben, das sein Evangelium verkündigt und er verkündigt eine Botschaft, die seinem Leben entspricht.

Aber das gehört zu den Grunderfahrungen der alten Kirche: Nicht jeder, der das Evangelium verkündigt, kann Christus in dieser Hinsicht nachfolgen. Oder genauer hat sich die alte Kirche gefragt: Wenn der Bote, der das Evangelium verkündigt, sich als Sünder erweist: ist dann seine Rede verdorben, ist sein Evangelium dann falsch?
Die alte Kirche steht ganz früh vor dem alten Dilemma vom „Wollen und Vollbringen“. Aber schon damals war dies ein alter Hut. Wir erinnern uns an Jesu Jünger im Garten Gethsemane: Jesus sagt ihnen: „Wachet und betet, dass ihr nicht in Anfechtung fallt! Der Geist ist willig; aber das Fleisch ist schwach.“

Das Fleisch hat sich in dieser Geschichte durchgesetzt. Kein geringerer als Paulus musste dieses Dilemma an sich selbst wahrnehmen: Im Römerbrief analysiert Paulus die Erfahrung, dass ich nicht so gut bin, wie ich eigentlich sein möchte: 7,14-25
Denn wir wissen, dass das Gesetz geistlich ist;
ich aber bin fleischlich, unter die Sünde verkauft.
Denn ich weiß nicht, was ich tue.
Denn ich tue nicht, was ich will;
sondern was ich hasse, das tue ich.
Wenn ich aber das tue, was ich nicht will,
so gebe ich zu, dass das Gesetz gut ist.
So tue nun nicht ich es,
sondern die Sünde, die in mir wohnt.
Denn ich weiß, dass in mir,
das heißt in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt.
Wollen habe ich wohl,
aber das Gute vollbringen kann ich nicht.
Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich.
Wenn ich aber tue, was ich nicht will,
so tue nicht ich es, sondern die Sünde,
die in mir wohnt.“

Liebe Gottesdienstgemeinde,
es gibt wenige Christen, die gerade diese Stelle aus dem Römerbrief zu ihrer biblischen Lieblingsstelle erheben würden. Um Paulus zu folgen, müssen wir tief in seine Psychologie eindringen. Und wir müssen das leuchtende Bild von uns selbst, das wir dem Rest der Welt vorspielen, einschrumpeln lassen zu dem, was uns wirklich ausmacht, - weitaus weniger strahlend. Und da bleibt nun einmal nur ein Gemisch aus Wollen und Vollbringen übrig: Manchmal will ich zu viel und versage kläglich, manchmal will ich wirklich das Gute und Richtige und es erweist sich im Nachhinein als katastrophal. Weil der Römerbrief so unbequem ist, hat er immer wieder in der Kirchengeschichte Menschen aufgerüttelt, die sich von ihm haben bewegen lassen, wie zum Beispiel Augustin oder Luther.

Im Unterschied zu der Predigt des Dalai Lama, wird im Römerbrief etwas eingeräumt, das wir in der modernen Psychobiologie als Instinktresiduen bezeichnen: Es gibt in uns eine Kraft, die sich durch unser Großhirn nur wenig steuern lässt und unser Handeln manchmal empfindlich bestimmt. Das, was die Psychobiologie als Überbleibsel aus unseren vorzeitlichen Hordeninstinkten interpretiert, heißt in biblischer Sprache schlicht: „Die Sünde“.

Und im Gegensatz zu den Meditationen des Dalai Lama – bei denen ich gar nicht weiß, ob sie der Erlösung von dieser Kraft überhaupt dienen – sagen wir Christen: Wir sind allein nicht fähig, diese Kraft in uns zu überwinden.

Noch einmal zurück zu Paulus. Paulus ist davon überzeugt, dass ein Mensch, der diese Leibstruktur mit ihrer Sünde überwindet, auch frei vom Tod sein könnte. Bloß ist dies eben nicht denkbar, für einen leiblichen Menschen reine Science fiction. Paulus fragt:
„Ich elender Mensch!
Wer wird mich erlösen
von diesem todverfallenen Leibe?
Dank sei Gott durch Jesus Christus,
unsern Herrn!“
Durch Jesus Christus werde ich aus dem Dilemma des Wollens und Vollbringens entlassen. Nicht, weil das Gesetz der Sünde in mir verschwindet, sondern weil mein Leben fest verbunden wird mit Jesus Christus. Und seine Erlösung, sein befreiendes Ja zu mir, das löst mich heraus aus der Todverfallenheit. Und den Beginn einer solchen festen Verbundenheit markiert im Christenleben die Taufe. Die Sünde hat keine Macht mehr über mich, weil Jesus Christus mir ihre Wirkung nicht anrechnet. Sein Ja zum Leben ist ein Nein zum Tod und damit steht die Sünde machtlos vor mir. - Hier verlangt das Christentum nach dem Gebet: Gott erlöse Du mich.

Im Buddhismus brauche ich keinen Gott, sondern ich muss dem richtigen Weg folgen und kann mit eigener Kraft meditierend die Erlösung bewirken. Hier trennen sich die Wege von Buddhismus und Christentum, auch wenn die Wirkung beider Religionen gleich ist: Wer eindringt in die Tiefe dieser Haltungen, der wird spüren, dass er mehr Kraft findet zu liebender Zuwendung, damit er aus dem Gefängnis des Hasses frei kommt. Und eins gilt im Christentum: Die befreiende Macht des Heiligen Geistes kann Würdige und Unwürdige zu ihrem Werkzeug machen. Es gibt keine menschliche Autorität, die den heiligen Geist zwingen könnte zu tun, was wir Menschen wollen. Dies wäre Magie, die schon im alten Testament einen schlechten Ruf genießt. Damit gibt es auch keinen Grund den Dalai Lama aufzusuchen oder Papst Benedikt XVI. beim Weltjugendtag in Köln. Wohlgemerkt: Es gibt keinen theologischen Grund, dies zu tun. Die weltliche Seite kennt einen anderen schlichteren Grund: Die Gier nach Prominenz!

Gott, schenke Du uns die Befreiung durch DEINEN Geist und schenk uns als Frucht unseres Vertrauens Liebe, die in diese Welt strahlt, denn dein  Friede, welcher höher ist denn alle Vernunft, bewahre unsre Herzen und Sinne in Christo, Jesu, Amen.