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„Was bietet mir ein Gottesdienst?“ fragte der Begrüßungsgottesdienst 2005 für neue Gemeindeglieder mit Taufe, bei dem Ralf-Andreas Gmelin predigte:

Liebe Gottesdienstgemeinde,

„Allein auf Gottes Wort will ich
mein Grund und Glauben bauen.
Das soll mein Schatz sein ewiglich,
dem ich allein will trauen.“

Diesem reformatorischen Bekenntnis aus der Lutherzeit möchte ich eine andere Beobachtung entgegensetzen, die ein fachkundiger Fernsehzuschauer über die Fernsehgottesdienste äußert: „Was Fernsehgottesdienste angeht, kann man eigentlich nur raten, sich an die römisch-katholischen Sendungen zu halten. Verkehrte Welt, sagen Sie? Theoretisch schon: Vertreten wir Protestanten nicht das Schriftprinzip…? Es war einmal. Heutzutage hat sich das Blatt gewendet: Mag uns einerseits am Volkskatholizismus manches stören oder die autoritäre Ämterhierarchie Roms anfechten – im Fernsehen schlägt uns katholisch verantwortete Theologizität allemal!“

Das schreibt von seinem Krankenlager aus der emeritierte Marburger Theologieprofessor Dietrich Stollberg. Und gibt uns einen Hinweis, was wir im evangelischen Gottesdienst suchen sollen: Das in der Heiligen Schrift bezeugte Wort Gottes. Die Bibel gibt uns das gleiche Stichwort im Psalm 56:
„Ich will Gottes Wort rühmen;
auf Gott will ich hoffen und mich nicht fürchten.
Was können mir Menschen tun?“ Psalm 56,5

Da steckt alles drin, wozu der Protestantismus Mut machen will: Im Rühmen steckt dreierlei: Ich muss Gottes Wort zur Kenntnis nehmen; ich muss es zu verstehen suchen und dann soll ich es auch noch gegenüber anderen vertreten: eben „rühmen!“ Das ist schon schwere Kost. Kein Wunder, dass viele Menschen heute lieber Yoga-Übungen oder indianische Schwitzzelte vorziehen.

„Ich will auf Gott hoffen und mich nicht fürchten.“
Das ist der zweite Schritt, Aufgabe und Versprechen zugleich: Aus Gottes Wort soll mir Hoffnung erwachsen und im Licht der Hoffnung wirkt jede Angst lächerlich. Aber unsere Hoffnung ist nicht sehr groß. Kein Wunder: Unser Alltag ist die gewaltigste Zähmung der Angst, die die Menschheit jemals unternommen hat. Wir bauen Häuser aus Angst vor Regen, wir betreiben einen riesigen Gesundheitsbetrieb aus Angst vor Krankheiten und aus Angst vor dem Tod und wir lassen uns am liebsten pausenlos von Medien berieseln, aus Angst, an unsere Lebensgrenze, an den Tod zu denken.

„Was können mir Menschen tun?“ Das ist die Frage, die nur einer stellen kann, der irgendwo eine ungeheure Hoffnung gefunden hat. Wir schließen uns gern in unseren Wohnungen ein, weil wir wissen, was uns Menschen tun können. Wir bewegen uns draußen am liebsten in geschlossenen Autos, weil wir uns darin sicherer fühlen, angesichts der vielen anderen Menschen, die auch unterwegs sind.

Liebe Gottesdienstgemeinde,
die Antwort ist leicht und doch weit weg: Wir sollen im evangelischen Gottesdienst aus Gottes Wort Gründe für unsere Hoffnung finden. Das sagt sich leicht. Aber fühlen Sie sich damit schon am Ziel Ihrer Suche?

Im Mittelalter, wir sind ja nicht die ersten Menschen, die nach dem Wesentlichen für ihr Leben suchen, wirkten „Mystiker“, Menschen, die intensiv nach Gott gesucht haben. Sie hatten ein Wort, das uns sehr vertraut ist, das aber bei ihnen einen fast gegenteiligen Sinn hatte: „Information“. Stolz wie ein Pfau bezeichnet sich unsere Zeit als das „Informationszeitalter“ und meint damit, das Milliarden digital verschlüsselter Nullen und Einsen in ungeheurer Geschwindigkeit um den Erdball rasen. Alles ist überall sofort da. Aber es bewegt eben auch kaum noch etwas. Das ist die Information unserer Tage: Tote Daten, die wir „aufrufen“ können, ohne dass sie uns aufbrechen lassen. In der Mystik meinte „Information“, dass Menschen durch etwas geformt werden. Dass Eindrücke auf sie einwirken, durch die sie ein anderer Mensch werden. Kein Wunder, in der Mystik gestaltete man solche Eindrücke sorgfältig: Nehmen wir die Architektur einer Kirche. Wenn sie die Harmonie des Himmels widerspiegelt, dann formt der Kirchenraum den Menschen in himmlischer Weise.

Figuren, wie in der Ringkirche die vier Evangelisten, die Wilhelm Haverkamp gestaltet hat, formen uns durch unsere Augen und erinnern an Menschen, die vom Heiligen Geist bewegt worden sind. Die Kirchenfenster mit ihrem bunten Glas lassen die Sonne durch fromme Symbole und Gestalten scheinen und formen uns im Sinne der göttlichen Erleuchtung. Die Musik mit ihren Intervallen und Melodien bringt fromme Worte in die Schwingkraft ewiger Harmonie und formt über unser Gehör unsere Seele. Die Atemluft in der Kirche wird mit dem Rauch des biblischen Weihrauchs zum Medium, das über die Nase den einzelnen Menschen an Gottes Zuwendung erinnert.

Und von diesem ganzen Kosmos der Künste und der geistlichen Kräfte konzentrierte sich die Reformation auf eins, in dem alles das bereits vorhanden ist: Auf das göttliche Wort in der Heiligen Schrift. War die mittelalterliche Messfeier ein Gesamtkunstwerk für alle Sinne, ermutigt Martin Luther den einzelnen Christen, seine Suche nicht mehr dem diffusen Zusammenklang des amtkirchlich verordneten Herrschaftsanspruchs zu überlassen. Der einzelne Christ soll verstehen, was er glaubt und er muss darum auch verstehen, was im Gottesdienst geschieht. Darum wird der evangelische Gottesdienst in der Landessprache gehalten und darum singt auch die evangelische Gemeinde und überlässt es nicht allein den kirchlichen Amtsträgern.

Unsere Ringkirche, ein Gebäude aus der Neuzeit – und nicht aus dem Mittelalter – spricht eine andere Sprache, die aber erstaunlich ähnliche Inhalte verfolgt: Für den Architekten der Ringkirche, Johannes Otzen, ist es die „Heilige Kunst“, die den einzelnen aus seinem Alltag reißen soll. Mit einem Wort: Die künstlerische Gestalt soll ein Werkzeug des Heiligen Geistes sein, um den einzelnen zu bewegen:  „Das Bauwerk als Kunstwerk soll zwar aus dem Bedürfnis heraus sich entwickeln, aber es soll auch der grossen Aufgabe alles architektonischen Schaffens sich bewusst bleiben, der Aufgabe: - das Reale zu idealisieren.“ So die Worte von Johannes Otzen. Wer das reale idealisiert, füllt die Steine und Formen mit Geist, bei einem Kirchbau mit Heiligem Geist.

Was prägt sich einem Menschen unserer Zeit ein? Was informiert ihn? – Im mystischen Sinne. Was formt uns, wenn wir den ganzen Tag im Alltagslärm stehen: Verkehr, Maschinen, Radio, Fernsehen? Welche Formen prägen diese Einflüsse unserer Seele ein?

Was formt uns heute in einem evangelischen Gottesdienst? Was für Gefühle stellen sich ein, wenn ich am Sonntagmorgen durch die Tür der Ringkirche komme? Wie empfinde ich meinen Platz? Was teilt sich im Gottesdienst mit? Was bleibt im Kopf hängen?

Was passiert, wenn ich gleich auf den Gesang der Kantorei höre? Spüre ich durch die romantischen Harmonien die Wirkung von den zugrunde gelegten Gedichten? Erhebt mich etwas, wenn es gleich heißt:
“Erquicke mich mit deinem Licht,
mit Freud vor deinem Angesicht
und bleibe immer, Herr, bei mir
und lass mich stille sein in dir.“
Oder fällt mir zum Gesang nur ein, ob ich die Darbietung gut oder weniger gut finde? So wie in den Feuilletons der großen Zeitungen, die aus Musik ein hochgezüchtetes Gestüt gemacht haben, in dem die Dirigenten und Orchester wie gehetzte Pferde im Kreis um die Wette laufen, weil sie immer die gleichen Stücke spielen, um irgendwann in der Reihenfolge einen höheren Platz zu ergattern.

Aber wenn die Musik im frommen Sinn geschrieben wurde, wenn die Kantorei heilige Worte in frommem Satz singt, dann will etwas vom göttlichen Geist in diesem Raum wirken – sogar, wenn der Gesang schräg klingen würde! Er schwingt und umgibt uns und vermischt sich mit den christlichen Symbolen und Farben, die durch die Fenster in die Kirche dringen. Und wenn wir uns öffnen für die Heiligkeit Gottes, dann will uns diese Umgebung in die Sphäre Gottes versetzen.

So tritt durch die Hintertür auch in die evangelische „Kirche des Wortes“ wieder das Gesamtkunstwerk ein, das uns dann wieder verbindet mit der gemeinsamen christlichen Kirche in der alle Christen unseres Erdballs zusammengehören. Und es stärkt uns, wenn wir mit Goethe sagen möchten:  „Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen.“

Den Vätern der Reformation war das göttliche Wort höher als uns, die wir auch die Schattenseiten frommer Haltungen kennen: Im Namen Gottes ist viel Schlimmes geschehen. Nicht weil Gott schlimm ist, sondern weil wir Menschen und gerade für unsere schlimmsten Handlungen gern Gottes Autorität ausborgen.

Darum soll der Christ verstehen was er glaubt und darum soll er nachvollziehen und verstehen können, was er im Gottesdienst erlebt. Sein Gewissen soll im Gottesdienst hellwach sein und nicht von einer kirchlichen Autorität eingenebelt werden.

Wir sollen im evangelischen Gottesdienst aus Gottes Wort Gründe für unsere Hoffnung finden. Die Verantwortung dafür tragen wir und nicht unsere Kirche und darum soll der einzelne Christ auch Gottes Wort lesen, verstehen und weitergeben können.

Dann gilt, was das Psalmwort sagt:
„Ich will Gottes Wort rühmen;
auf Gott will ich hoffen und mich nicht fürchten.
Was können mir Menschen tun?“
Gott las uns nicht allein, auf unserer Suche, denn dein  Friede, welcher höher ist denn alle Vernunft, bewahre unsre Herzen und Sinne in Christo, Jesu, Amen.