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Die Predigt am Sonntag Invocavit 2004 nimmt ihren Ausgang bei der Vorstellung des Hebräerbriefes, dass Jesus der große Hohepriester, der Mittler zwischen Gott und Mensch ist (Hebr. 4, 14-16). Ralf-Andreas Gmelin sagte:

Im Hebräerbrief wird Jesus Christus als der wahre Hohepriester benannt, der uns darum Kraft gibt, weil er denselben Versuchungen ausgesetzt war, die auch uns heimsuchen:
„Weil wir denn einen großen Hohenpriester haben, Jesus, den Sohn Gottes,
der die Himmel durchschritten hat,
so lasst uns festhalten an dem Bekenntnis.
Denn wir haben nicht einen Hohenpriester,
der nicht könnte mitleiden mit unserer Schwachheit,
sondern der versucht worden ist in allem wie wir, doch ohne Sünde.
Darum lasst uns hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben.“

Herr, tu meine Lippen auf, dass mein Mund Deinen Ruhm verkündige.

Ich möchte zu Beginn der Fastenzeit an diesem Sonntag Invocavit ein ABC der Theologie darstellen und für die Uneingeweihten ein Fundament legen. Sie sollen verstehen, was ich meine, damit ich nicht einem Tauben Märchen erzähle, wenn ich über Gnade oder Willensfreiheit, über menschliche Werke oder unsere Nichtigkeit spreche.

Zunächst meine ich, dass unsere menschliche Kraft niemals etwas bewirkt — seit diese Welt entstanden ist. So erkennt Ihr, wie eitel und schwach die Natur ist. Zwar hat Gott den Menschen als einen Gerechten erschaffen. ...

Und wenn es der Mensch im ursprünglichen Stand des Paradieses ausgehalten hätte, wäre der Mensch der Herr über alle Dinge, ohne unter Kälte oder Hitze zu leiden. Aber der Dämon, der dies nicht leiden wollte, ärgerte sich und stiftete darum Verwirrung. Er wollte den Menschen in seine Hand bekommen. Darum umgarnte er ihn mit allem Betrug, auf dass er Zwiespalt zwischen dem Menschen und Gott stifte. So hat Adam schließlich vom Apfel gekostet.
Es ging dabei nicht um den Apfel! Sondern um den Willen Gottes, den der Mensch überschritten hat. Das hätte er nicht tun sollen. Auch bei den Geboten Gottes kommt es nicht auf die Worte, sondern auf den Willen Gottes an. Als Adam mit dem Biss in den Apfel schuldig wird, wendet sich Adam von Gott ab und verlässt ihn: Der Mensch schickt Gott in Urlaub und kehrt ihm den Rücken.

So ist der Mensch durch seine eigene Schuld gefallen, und war nicht mehr in der Lage aufzustehen. Zwischen Mensch und Gott war Feindschaft entstanden. Nun braucht das Verhältnis von Gott und Mensch einen Vermittler wie das auch Paulus sagt (1 Tim 2,5).

Der Wille des Menschen… konnte kein Mittel gegen die Feindschaft finden, sondern sie ist immer mehr eingerissen, und wird je länger je ärger. Von Tag zu Tag mehrten sich die Laster, insbesondere im Bereich des Sexuallebens. — So gab sich ein Weib bald nicht mehr mit einem Mann zufrieden, und umgekehrt begnügte sich der Mann längst nicht mehr mit einem Weib. Die Gier wuchs derart an, dass die schandbare Beziehung bald auch auf die Tiere ausgedehnt wurde. Auch Mutter und Schwester blieben nicht ohne Vorwurf.

Und all das geschah vor der Sintflut. Darum wollte Gott die Welt wieder sauber machen, indem er alles Fleisch vernichtete. Es war ja so weit gekommen, dass einer den anderen schlachtete und auffraß. So war zu jener Zeit kein Lebewesen grausamer als der Mensch. Später kam auch noch die  Verblendung hinzu, die dazu führte, dass niemand darin auch nur die geringste Sünde erblickte.

Wenn es zur Gewohnheit wird, wird ein Verhalten zum Schlimmsten aller Laster. Man gewöhnt sich daran, man schreibt darüber wie selbstverständlich in Büchern und Schriften, man singt es auf Bühnen und in Liedern. Das geschieht immer wieder so.“


Liebe Gottesdienstgemeinde,
haben einzelne Gedanken dieser Passionspredigt Sie verwundert, aufgestört oder befremdet? Halten Sie sie für penetrant moralisch? Oder biblizistisch? Oder fundamentalistisch? Oder evangelikal? Oder katholisch? Oder erscheinen Ihnen diese Gedanken schlicht christlich?

Die Bestandteile dieser Fastenpredigt stammen aus Abhandlungen von Martin Luther zur Fastenzeit aus den Jahren 1514 bis 1520. Es gehört zur Ironie der protestantischen Kirche, dass sie sich vom Geist der Fasten so weit weg bewegt hat, obwohl die Passionszeit für ihren Gründer Martin Luther der Anlass war, das ABC des Glaubens darzulegen. Luther bekämpft eine ferngesteuerte Fastenpraxis, bei der sich die Kirche zwischen Mensch und Gott schiebt. Aber seit es dem Menschen gelungen ist, mit einem Biss in einen schlichten Apfel den Willen Gottes zu ignorieren, steht er in der ständigen Gefahr, sein Herz an die Welt und ihren Verführungen zu hängen und Gott den Rücken zuzudrehen.

Die Passionszeit ist für Luther theologisch eindeutig die Zeit, in der er sich bewusst macht, wie sehr er von der Welt abgelenkt und gebunden wird. Wie sehr unser menschliches Leben Gott den Rücken zukehrt.
Nur: Dagegen hilft nicht einfach ein bisschen guter Wille. Allein Jesus Christus als Mittler zwischen Mensch und Gott kann den Fall aufheben, kann die Sünde Adams reinwaschen und neu mit der Gerechtigkeit verbinden, in der uns Gott geschaffen hat und die wir mit unserem Eigensinn gegen Gott verlassen haben. Auf diesen Jesus Christus zielt der Predigttext aus dem Hebräerbrief, der uns darauf hinweist, dass Jesus Christus nicht eine versteinerte Ikone ist, sondern uns auch in unseren Versuchungen nahe ist:
„Denn wir haben nicht einen Hohenpriester,
der nicht könnte mitleiden mit unserer Schwachheit,
sondern der versucht worden ist in allem wie wir, doch ohne Sünde.
Darum lasst uns hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben.“

Vermutlich sind die meisten unter uns heute Morgen nicht darum in der Ringkirche, weil heute der Sonntag Invocavit ist. In der Lutherzeit war Invocavit weitaus prominenter. Als Martin Luther 1522 nach Wittenberg zurückkommt und entdecken muss, dass die, die sich auf ihn berufen, seiner Meinung nach völlig falsche Wege beschritten haben, nennt er diese Predigten Invocavit-Predigten. Es sind die Bekenntnisse, wo das ABC des Glaubens vorgetragen wird, wo es um das Eigentliche der christlichen Religion geht.

In einem Gremium der Wiesbadener Kirche kam in der vergangenen Woche das Gespräch darüber auf, inwieweit die Kirche in der Öffentlichkeit immer mit Gott in Verbindung gebracht werden will. Zu Deutsch: Man soll die Menschen nicht damit verschrecken, indem man ständig auf Gott hinweist.

Welch ein Glück, dass an diesem Tisch nicht Martin Luther gesessen hat. Er hätte sicherlich nicht seine charmanteste Art aufgesetzt, mit dem er die Kollegin darauf hingewiesen hätte, wofür diese Kirche in der Welt ist. Wenn ich mir Martin Luther als heutigen Kollegen vorstelle, dann wäre er vermutlich so ausfällig geworden, dass sich das Szenario abgespielt hätte, das Philipp Roth in seinem Roman „Der menschliche Makel“ beschreibt: Man würde ihn heute aufgrund seines cholerischen Anfalls achtkantig aus dem Amt jagen.

Auch in der Kirche- heute wie damals - hängen wir unser Herz gern an andere Götter. Und da sind ja auch nette Götter dabei: Von der sozialen Gerechtigkeit über mehr Fürsorge für Minderbemittelte bis hin zu besseren Chancen für Kinder und Jugendliche. Aber mit der Zuwendung zu diesen Göttern drehen wir dem Gott der Bibel den Rücken zu. Wir verlieren den aus dem Blick, der nach dem biblischen Zeugnis und nach dem Bekenntnis von Martin Luther unser Verhältnis zu Gott wieder errichtet, Jesus Christus.

Das in unserem ganzen Lebensablauf leibhaftig spürbar werden zu lassen, dazu dienten und dienen die alten Fastenprinzipien. Darin ist die Fastendisziplin ein spirituelles Wunderwerk: Wer fastet erkennt, wie vielfältig er von den Alltagsgöttern in Beschlag gelegt wird. Wie viele Gewohnheiten uns angeleint halten und wie schwer es ist, uns von solchen falschen Bindungen loszusagen. Mit dieser Befreiung werden wir keine besseren Christen.

Bessere Christen werden wir allein durch den Glauben an Jesus Christus: Weil wir denn einen großen Hohenpriester haben, Jesus, den Sohn Gottes, der die Himmel durchschritten hat, so lasst uns festhalten an dem Bekenntnis. „Denn wir haben nicht einen Hohenpriester,
der nicht könnte mitleiden mit unserer Schwachheit,
sondern der versucht worden ist in allem wie wir, doch ohne Sünde.
Darum lasst uns hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben.“

Gott schenke Du uns den Blick auf Jesus Christus, damit wir wachsen im Glauben, denn Dein  Friede, welcher höher ist denn alle Vernunft, bewahre unsre Herzen und Sinne in Christo, Jesu, Amen.