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Am 2. Sonntag nach Epiphanias geht die Predigt von Ralf-Andreas Gmelin von dem Brief des Paulus an die Gemeinde in Rom aus, die darauf Antwort gibt, was Christsein praktisch heißt:


Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und dem HERRn Jesus Christus.

Wie lebt ein Christ in der Gemeinschaft von Christen? Paulus gibt uns eine Antwort in seinem Brief an die Christen in Rom (Röm 12,9-16):

Die Liebe sei ohne Falsch.
Hasst das Böse, hängt dem Guten an.
Die brüderliche Liebe untereinander sei herzlich. Einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor.
Seid nicht träge in dem, was ihr tun sollt.
Seid brennend im Geist. Dient dem Herrn.
Seid fröhlich in Hoffnung,
geduldig in Trübsal,  beharrlich im Gebet.
Nehmt euch der Nöte der Heiligen an.
Übt Gastfreundschaft.
Segnet, die euch verfolgen;
segnet, und flucht nicht.
Freut euch mit den Fröhlichen
und weint mit den Weinenden.
Seid eines Sinnes untereinander.
Trachtet nicht nach hohen Dingen,
sondern haltet euch herunter zu den geringen. Haltet euch nicht selbst für klug.

Herr, tu meine Lippen auf, dass mein Mund Deinen Ruhm verkündige.

Liebe Gottesdienstgemeinde,

ein altmodisches Wort für die Art und Weise, wie Menschen miteinander umgehen, heißt „Manieren“. Manieren sind in Deutschland im Allgemeinen kein Thema. Umso verwunderlicher ist es, wenn im vergangenen Jahr ein Buch erscheint, das diesen Titel trägt: „Manieren“. Noch verwunderlicher ist, dass dieses Buch kein banales Benimmbuch ist, das von einer Gräfin Von und Zu geschrieben wurde, um dem gesellschaftlichen Aufsteiger eine Anleitung zu geben, in feiner Gesellschaft nicht unangenehm aufzufallen. Nein, das Buch „Manieren“ ist ein Spiegel, der dem Umgang von Menschen vorgehalten wird, die in Europa und speziell in Deutschland leben. Ein solcher Blick auf unser Miteinander braucht zwei Voraussetzungen: Zum einen muss man sich sehr gut auskennen, zum andern muss man den nötigen Abstand haben, um beobachten zu können, was bei uns „normal“ ist. Der Autor von „Manieren“ erfüllt beide Voraussetzungen in besonderer Weise: Asfa-Wossen Asserate ist Äthiopier und schaut als aristokratischer Afrikaner auf den deutschen Alltag - und er lebt nach dem Studium in Tübingen und Cambridge - seit der kommunistischen Revolution in seinem Heimatland in Deutschland, wo er unseren Alltag mit offensichtlich guter Beobachtungsgabe aufgenommen hat. Dieses kluge Buch steckt voller Überraschungen. Ich möchte mich heute Morgen darauf beschränken, Ihnen ein paar Beobachtungen mitzuteilen, die in dem Kapitel stehen: „Die Manieren und die Religion“. Schon zuvor ist bei Asserate immer wieder das Thema Religion aufgeblitzt: Ganz zu Anfang zählt er auf, was besonders unmanierlich ist. Dazu gehört für ihn, fremde Leute beim Abendessen zu fragen: „Glauben Sie an Gott?“ –

Oder auch die in Europa kultivierte Verehrung der Frau als Dame, wird von Asserate aus der Marienverehrung abgeleitet, die dem Christentum  entstammt.

Sind Manieren nicht etwas rein Äußerliches? Asserates Definition könnte darauf schließen lassen: „Manieren sind das Parfüm, das vergessen läßt, dass wir stinken.“ Andererseits besteht er darauf, dass die Manieren so mit den Handlungen verbunden sind, wie unsere Gedanken von Worten abhängen, um vorgebracht zu werden: Gedanken müssen in Worte „gekleidet werden“, um anderen zugänglich zu werden. Wenn ich handle geschieht dies im Rahmen irgendwelcher Manieren, die dadurch zum Ausdruck kommen.-

Asserate sagt zu der deutschen Religiosität: “Die Religion ist… strikte Privatsache und im öffentlichen Raum der Gesellschaft nur geduldet; keinesfalls begründet sie Gemeinsamkeiten, oft noch nicht einmal unter ihren Mitgliedern, die auf den gesellschaftlichen Druck, unter den die Religion geraten ist, höchst unterschiedlich reagieren.“ Dabei sind es religiöse Überzeugungen, die das Fundament vieler Verhaltensweisen bilden. Dies gilt auch heute, obwohl die Religion im europäischen Westen an einem „mehr als zweihundertjährigen Schwächeanfall“ leidet. Asserate ist überzeugt, dass die eigentliche Schule der Manieren die Liturgie sei, also die Handlungsweisen, die das Gebet gläubiger Menschen begleiten. Die Manieren beginnen indes da, wo die religiösen Übereinstimmungen aufhören. Wer selbst von der Wahrheit eines Glaubens durchdrungen und erfasst ist, der muss darunter leiden, wenn ihm ein Mensch begegnet, der etwas anderes glaubt. Wenn ich von der Wahrheit meines Glaubens überzeugt bin, dann muss sich der andere im Irrtum befinden. Ausdruck von Manieren ist es, diesem anderen Menschen dennoch mit Ehrfurcht und Respekt zu begegnen.

Als abschreckendes Beispiel wird die Respektlosigkeit Johann Wolfgang Goethes geschildert, mit der er sich in der Sixtinischen Kapelle auf den Papstthron gesetzt hat, um sein Mittagschläfchen zu halten. Asserate: „Ich bin der Überzeugung, dass kein gerecht Denkender ein ernsthaftes Vergnügen an solchen Tabuverletzungen empfinden kann. Die Unverschämtheit, die Unfähigkeit, Grenzen zu akzeptieren, ist vielleicht der eigentliche Charakterkern der Vulgarität.“-

Damit rechnen, dass andere mit ganzem Lebensernst religiöse Anschauungen haben können, das fordern die Manieren auch von dem, der nichts glaubt: „Wer die Kirche einer Religionsgemeinschaft betritt, der er nicht angehört, muß es in dem Bewusstsein tun, daß dieser Ort den Leuten, die ihn zu ihrem Gottesdienst aufsuchen, heilig ist. … -Selbstverständlichkeit, Unbekümmertheit und Ungezwungenheit, sonst so schöne und anmutige Gaben, sind hier fehl am Platz. Der heilige Ort, sei er Kirche oder Tempel oder Moschee, ist locus terribilis, schrecken- oder ehrfurchtgebietender Ort; wer sich solcher Auffassung grundsätzlich verschließt, sollte davon absehen, solche Orte zu betreten. Man muß nicht überall sein wollen. Das eigene Besser-Wissen und Mehr-Wissen und Neueres-Wissen ist nicht der Maßstab für den Rest der Welt.“

Die Respektlosigkeit vor dem Heiligen, die Asserate auch bei modernen Theologen ausmacht, ist dem Afrikaner unheimlich. Er empfiehlt denen, die vor dem Religiösen wenig Achtung haben, wenigstens das Alter der Religion zu respektieren, wie man einen alten Baum bewundert. „In bezug auf die Religion bewährt sich für uns eine Regel, die für die Manieren ganz allgemein gilt: lieber zu respektvoll sein als ein klein wenig zu respektlos.“

Wir verlassen die Welt der Manieren, in der es selbstverständlich ist, dass Menschen unterschiedlich sind und auch unterschiedlichen Klassen angehören. Die Welt des Christentums sieht alle Menschen unterschiedslos dem einen gleichen Gott gegenüber.  Was den Blick von Asfa-Wossen Asferate auf unseren Alltag so wertvoll macht, ist seine afrikanische Unbefangenheit, der ein „religionsfreier Raum“ fremd ist. Auch innerhalb der Kirchen haben wir uns in Europa angewöhnt, viel Scharfsinn darauf zu verwenden, die Religion aus unserem Alltag säuberlich herauszutrennen, um sie in Kirchen, in Gottesdienste, in Friedhofshallen und Beisetzungsfeiern einzusperren.

Das Heilige ist uns verdächtig: Luther hat Recht, wenn er einen Kult verdammt, der den, der ihn eingesetzt hat, längst vergessen hat. Wenn sich die Kirche um sich selbst statt um Jesus Christus dreht, verliert sie ihre Würde.
Dass andererseits Menschen einen heiligen Ort suchen, wo ihr Alltag eine Unterbrechung erfährt, das lässt sich fast in jeder Religion beobachten. Dass auch evangelische Kirchen heilige Orte sein können, die sich dennoch nicht an die Stelle Gottes schieben, können wir vielleicht neu lernen. Der heilige Ort vergewissert uns, dass Gott ist, dass er da ist und dass ihm nicht gleichgültig ist, was wir in unserem Alltag machen. Der Alltag ist der Ort, wo die Religion ihre Früchte tragen soll.

Das, was Paulus den römischen Christen und uns rät, sind jedenfalls Alltagsregeln, keine Sonntagsreden:

Die Liebe sei ohne Falsch.
Hasst das Böse, hängt dem Guten an.
Die brüderliche Liebe untereinander sei herzlich. Einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor.
Seid nicht träge in dem, was ihr tun sollt.
Seid brennend im Geist. Dient dem Herrn.
Seid fröhlich in Hoffnung,
geduldig in Trübsal,  beharrlich im Gebet.
Nehmt euch der Nöte der Heiligen an.
Übt Gastfreundschaft.
Segnet, die euch verfolgen;
segnet, und flucht nicht.
Freut euch mit den Fröhlichen
und weint mit den Weinenden.
Seid eines Sinnes untereinander.
Trachtet nicht nach hohen Dingen,
sondern haltet euch herunter zu den geringen. Haltet euch nicht selbst für klug.“

Eine Zeit, in der wir spüren, wie viel wir durch einen afrikanischen Blick auf unseren Alltag gewinnen, ist eine gute Zeit. Wenn uns das ermutigt, unseren Glauben im Alltag zu leben, ist es ein guter Geist, der uns bewegt.

Gott mach uns Mut mit unserem Glauben zu leben, denn dein  Friede, welcher höher ist denn alle Vernunft, bewahre unsre Herzen und Sinne in Christo, Jesu, Amen.