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Am Heiligen Abend 2005 erklingt um 23 Uhr ein Hirtenduo für Orgel und Krummhorn (Ralf Sach und Edith Mädche). Dazu ist von Ralf-Andreas Gmelin zum Schein des Hirtenfeiers zu hören:

 
Herzlich Willkommen auf den Bänken der Ringkirche. Die Heilige Nacht ist eine geistliche Nacht. Geistlich wollen wir uns aufmachen und hinausgehen in dieser heiligen Nacht auf die Hirtenfelder. Dort draußen hören wir die Weisen derer, die in der Kälte der Nacht zuhause sind: Musik der Hirten.

Dazu spielt heute Nacht Edith Mädche ein Gamshorn und ein Krummhorn. Zwei Instrumente, die klingen, als würden sie direkt vor 2000 Jahren gespielt. Auch die dazu klingende Orgel, die Ralf Sach spielt, gab es schon in der Antike.

Stimmungsvoll komponiert im Sinne der Hirten vor Bethlehem hat die Stücke der niederdeutsche Verleger und Renaissancekomponist Tylman Susato (1500-1561/64 Köln, Antwerpen) im sechzehnten Jahrhundert.

Dort draußen begrüßt uns auf den Hirtenfeldern eine „Bergerette“, ein Hirtentanz.
(Tylman Susato: „Bergerette“)

Die Kälte der Nacht ist immer dieselbe.
Die Arbeit ist oft monoton und hört nie auf.
Meist geht es um Arbeitsplätze, um Geld,
um Zeugnisnoten, um Konjunkturdaten, um Kontostände und Sorgen.
Nur selten durchbricht ein Wunder den Alltag.
Ein solches Wunder soll uns heute Nacht vor Augen stehen.
Heute dringt eine Nachricht durch die Nacht:
Jesus Christus ist Mensch geworden.
Wir singen, um mit den Hirten zum Stall zu ziehen:

(EG 48 Kommet ihr Hirten, ihr Männer und Fraun)

Wir kommen zu dem Stall.
Wir kommen zur Krippe.
Wir kommen zu dem, der uns heute Nacht geschenkt wird.
Wir kommen um anzubeten.

Wir beten:

Kind in der Krippe,
hier bin ich.
Kind in der Krippe,
ich möchte zu Dir aufsehen können,
möchte vor Dir niederknien können,
aber es ist so schwer.
Kind in der Krippe,
ich soll daran glauben, dass Du meine Erlösung ist, dass Du mich befreist von all den drückenden Sorgen. Kind in der Krippe, lass es mich heute Nacht glauben, lass mich Dir näher kommen. Lass mich bei Deiner Krippe sein und vertreibe meinen Zweifel.
Wärme Du meinen Glauben mit dem Feuer Deiner Liebe.

Amen.

Wo bist Du?
(Tylman Susato: Wo bist Du?)

Unser Leben ist eine Suche. Und oft genug eine Suche im Dunkel. Tanzende Schatten verlegen uns den Weg und lassen uns davon abkommen.

Wer draußen im Dunkel der Nacht nach dem Weg sucht, der ist froh über jeden, der ihm mit einer Geschichte weiter hilft.  Und so hören wir von dem Josef aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth. Er kam in das jüdische Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, damit er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe; die war schwanger.
Und als sie dort waren, kam die Zeit,  da sie gebären sollte.
Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.

(Tylman Susato: Danse du Roi)

Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden,
die hüteten des Nachts ihre Herde. 
Und der Engel des Herrn trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr.
Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.
Und das habt zum Zeichen: ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen. Und alsbald war da bei dem Engel  die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen. Lasst uns auf die hellen Lieder der Engel hören indem wir zusammen singen:
(EG 54: Hört der Engel helle Lieder 1-3)

Und als die Engel von ihnen gen Himmel fuhren, sprachen die Hirten untereinander: Laßt uns nun gehen nach Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der Herr kundgetan hat. Und sie kamen eilend und fanden beide, Maria und Josef, dazu das Kind in der Krippe liegen. Als sie es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, das zu ihnen von diesem Kinde gesagt war. Und alle, vor die es kam, wunderten sich über das, was ihnen die Hirten gesagt hatten. Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen. Und die Hirten kehrten wieder um, priesen und lobten Gott für alles, was sie gehört und gesehen hatten, wie denn zu ihnen gesagt war. Wir singen das Lied des Hirten, der sich an das Wunder der Christnacht erinnert:
(Verse 1-3)

Viele von uns sind groß geworden mit dem Bild der Krippe und den Männern, die grob gekleidet besser zu ihren Schafen passen als zu einem zierlichen neugeborenen. Mir selber sind die dunkelgrauen Krippenfiguren, die meine Mutter in den fünfziger Jahren aus Ton gestaltet hat vor Augen.

Nicht alle Menschen sind mit einem Bild vor Augen groß geworden, das Krippe, Stall und Hirten zeigt. Der russische Künstler Ilja Kabakow ist aufgewachsen im kommunistischen Rußland. Der Zweite Weltkrieg ging gerade zu ende. Mit seiner Mutter wurde der Junge Ilja evakuiert in eine kleine russische Stadt bei Moskau. Dort stand ein Kloster. Im Innersten dieses Klosters fanden die beiden, Mutter und Sohn Unterschlupf. Ilja Kabakow erzählt:

"Ich besuchte zu jener Zeit eine Kunstschule, die hier notdürftig untergekommen war, und zusammen mit  Mutter, die ebenfalls in dieser Schule arbeitete, bewohnten wir dort ein kleines Zimmer.

Es war Winter, sehr kalt. Als ich einmal spätabends Luft schöpfen ging, bemerkte ich in der Ferne hell erleuchtete Fenster und lenkte meine Schritte dorthin. Ich gelangte an eine große Kirche. In ihr hatten sich im Schein strahlender Wachslichter viele Menschen versammelt, die Kerzen und Kuchen in ihren Händen hielten. Ich stand mit allen in diesem festlichen Licht, ohne zu wissen, dass es ein Fest und was für ein Fest es war, denn verboten war alles Religiöse im Sowjetland. …

Und es geschah etwas mit mir, woran ich mich bis heute erinnere. Plötzlich fühlte ich mit aller Kraft, gleichsam wie eine Realität, dass in der Kirche etwas vor sich ging,
dass etwas mit meiner Seele geschah,
dass etwas Ungewöhnliches anwesend war,
und dass es unter uns existiert.
Nie zuvor hatte ich Ähnliches erlebt, ein Schluchzen erschütterte mich, -
aber es waren fröhliche Tränen."
(Als ich bei meinen Schafen wacht, 4+5)

 
Was suche ich mitten in dieser Winternacht in der Wiesbadener Ringkirche? Vielleicht ist es dieses Gefühl von Gewissheit: Dass hier etwas existiert, das sonst das Jahr über im Geheimnis verschwindet, weil es unsre hektische Äußerlichkeit flieht. Vielleicht suchen wir eine solche freudige Erschütterung, dass etwas mit uns geschieht. Denn sonst sind wir gewohnt, alles gleichmütig hinzunehmen und wegzustecken. Vielleicht wünschen wir uns, dass dieses kleine Kind aus seiner Krippe erschüttert und dass wir es irgendwo in der Tiefe unserer Seele finden. Dass es dort wächst und groß wird. Und uns Gewissheit gibt auf unserer Suche.

Vielleicht wünschen wir, dass die tiefe Friedensehnsucht, die mit der Heiligen Nacht verbunden ist, aus unserer Seele herauskommt, hinein in unsere friedlose Welt, in der noch immer täglich geschossen, gemordet und verhungert wird.

Das verbindet uns mit den rauen Männern draußen auf den Hirtenfeldern: Dass wir uns eine Erschütterung wünschen, wie sie eine erlebt haben.

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und dem HERRn Jesus Christus.