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Am 1. Weihnachtstag 2003 treibt die Predigt von Ralf-Andreas Gmelin mit der Krippe hinaus in den Pazifik. Ausgangshafen war ein Bekenntnis aus dem Titusbrief (3,4-7), wo das Wunder gepriesen wird, dass mit Jesus Christus die Freundlichkeit Gottes erschienen ist:

Als aber erschien die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes, unseres Heilands, machte er uns selig – nicht um der Werke der Gerechtigkeit willen, die wir getan hatten, sondern nach seiner Barmherzigkeit – durch das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung im heiligen Geist, den er über uns reichlich ausgegossen hat durch Jesus Christus, unsern Heiland, damit wir, durch dessen Gnade gerecht geworden, Erben des ewigen Lebens würden nach unsrer Hoffnung.

Herr, tu’ meine Lippen auf, dass mein Mund Deinen Ruhm verkündige.
 

Liebe Weihnachtsgemeinde,

am Anfang des Gottesdienstes hatte ich Sie eingeladen, mit mir noch einmal zurück zu gehen zu dem Urbild der Geburt Christi:

Wir treten ein in den Stall.

Dort steht in einer Darstellung aus dem 5. Jahrhundert, es ist die älteste europäische Geburtsdarstellung die uns bekannt ist, (ein Elfenbeintäfelchen, das heute in Nevèrs zu finden ist) Ochs und Esel - und dazwischen Jesus Christus im Fresstrog. Erst hundert Jahre später entdeckt die Kunst, dass zu diesen Dreien auch Maria und Josef - als die Eltern - dazugehören müssten. Ursprünglich gibt das Bild von Ochs und Esel und dem Kind keine Antwort auf die Frage, in welcher Gesellschaft denn unser lieber Herr Jesus geboren sei – dann hätte niemand die glücklichen Eltern vergessen!

Ochs und Esel, die hungrig auf das Kind in ihrem Fressnapf schauen, stehen an der Krippe als symbolische Bedrohung, so wie der Prophet Jesaja (1,3) verkündet hatte: "Ein Ochse kennt seinen Herrn und ein Esel die Krippe seines Herrn, aber Israel kennt's nicht, und mein Volk versteht's nicht." So wie heute viele Menschen nicht mehr sagen können, wofür wir eigentlich Weihnachten feiern, so weiß auch die Antike schon, dass der Satz von Martin Luther immer gültig bleibt: „Ein Christ ist ein seltener Vogel.“

Ein kanadischer Schriftsteller, Yann Martel, hat vor zwei Jahren ein Buch veröffentlicht, dessen deutsche Übersetzung in diesem Jahr herauskam. Es hat mich merkwürdig berührt. Und gerade darum, weil es irgendwie mit Weihnachten, mit dem Bild von Ochs und Esel, mit Gesellschaft und Bedrohung zu tun hat: Tiere und Theologie. An der Krippe im Stall gehören sie ganz nahe zusammen – aber dann? Dann hat sich dieses Verhältnis in schlechte Scherze verflüchtigt. Zu Zeit meines Abiturs empfahlen wir uns gegenseitig „Veterinärtheologie“ zu studieren, um dann Schweinepriester zu werden. An mir sehen Sie nun, was dabei heraus gekommen ist…

Zum ersten Mal seit diesen schlechten Scherzen habe ich nun ein Buch gelesen, wo in ganz feinem ironischen Ernst wieder Theologie und Tiere ganz eng beieinander wohnen. Im Zentrum des Romans, der im Deutschen „Schiffbruch mit Tiger“ heißt, steht Pi Patel, ein indischer Junge. Er wächst in einem Privatzoo auf, der seinem Vater gehört. Obwohl seine Eltern sehr säkulare Inder sind, die gleich weit von allen Religionen entfernt denken und empfinden, fühlt sich Pi Patel zu Hinduismus, Christentum und Islam gleichermaßen angezogen. Er lässt sich taufen, erwirbt zugleich einen islamischen Gebetsteppich und verliert auch seien hinduistische Tradition nicht aus dem Blick. Gleich zu Beginn kommt ein Glaubensbekenntnis. Es beginnt ganz harmlos, indem es beschreibt, dass Zoos so unbeliebt seien, in unserer Zeit, weil sie angeblich den Tieren die Freiheit nähmen.

Und das noch bevor ein Massenansturm auf die Kinos eingesetzt hatte, wo Kinder und Erwachsene vor der Leinwand bangen, dass der kleine Clownfisch Nemo auch ja wieder aus dem bösen Aquarium in die Freiheit des Meeres kommt. Die neueste Disney-Produktion „Findet Nemo“ verschweigt durchaus nicht, was die Freiheit bedeutet: Ein ununterbrochener Kampf ums Überleben, Fressen und Gefressen-werden. Und dennoch, wenn man den Meldungen glauben darf, schütten massenhaft Kinder in aller Welt Aquariumsfische in die Kanalisation, wo sie dann zwar frei, aber ebenso sicher bald tot sind.

Der Roman von Yann Martell ergänzt diese merkwürdige Vorstellung von der Freiheit der Tiere noch um die Beobachtung, dass nur Zootiere ohne fürchterliche Parasiten leben dürfen. In freier Wildbahn werden sie zu Lebzeiten von innen ausgesaugt und von außen angezapft. Yann Martell sagt: „Wenn ein Tier an diesem einen Ort alle Orte findet, die es braucht, einen Ruheplatz, Nahrung, Wasser, einen Platz an dem es baden und sich pflegen kann, … dann wird es seinen Lebensraum im Zoo genauso in Besitz nehmen, wie es sich in einem neu gefundenen Raum in der Wildnis einrichten würde.“ Vielleicht finden Sie es ein bisschen daneben, dass Ihnen an Weihnachten solche veterinärischen Weisheiten vorgetragen werden. Yann Martell ahnt das. Er schreibt:

„Aber ich will Ihnen nicht zur Last fallen. Ich will Ihnen die Zoos nicht anpreisen. Schließen Sie alle, wenn Sie wollen und lassen Sie uns hoffen, dass das, was vom Tierleben noch bleibt, in dem überleben kann, was von der Natur noch bleibt. Ich weiß, die Menschen mögen keine Zoos mehr. Und keine Religion. Beide sind einem Trugbild, einer falschen Idee von Freiheit zum Opfer gefallen.“

Habe ich Ihnen zuviel versprochen? Wenn eine Aussage in vollem Ernst „Veterinärtheologie“ genannt werden darf, dann dieser Satz.

Doch dann beginnt erst die Geschichte. Die Zootiere werden an amerikanische Zoos verkauft. Amerika ist das unerreichte Ziel dieser Fahrt. Amerika, dessen Freiheitspathos wohl mit daran schuld ist, dass wir einer falschen Idee von Freiheit zum Opfer fallen: Der amerikanische Clownfisch Nemo wäre jetzt, dank seiner kinogerechten Befreiung bestimmt erfolgreich in der Freiheit des pazifischen Ozeans - gefressen.

Der indische Zoo chartert ein Schiff, lädt die Tiere in ihren Käfigen ein, die ganze Familie versorgt den Tiertransport und so geht es über den Pazifik. Eines Nachts geht das Schiff unter. Auf dem Rettungsboot findet sich nur noch ein kleiner Kreis: Pi Patel, das Menschenkind. Ein verletztes Zebra, eine mörderische Tüpfelhyäne, ein Orang-Utan – und ein bengalischer Tiger. Am Ende der Nahrungskette bleiben zwei Wesen übrig: Der indische Junge und der 450 Pfund schwere bengalische Tiger.

Und da ist einerseits der zermürbende Kampf ums Dasein: der Junge kann nicht den Tiger besiegen, aber kann ihn dank seiner Schläue kontrollieren. Um dann festzustellen, dass er ohne diese stetige Kontrolle, ohne den permanenten Kampf ums Überleben längst an einer Depression gestorben wäre.

Ein Kind und ein Tier inmitten des Ozean. In einem Boot, das irgendwie Ähnlichkeit hat mit einer großen Futterkrippe, zumal in seinem einen Ende auch tatsächlich eine Menge Lebensmittel und Wasser lagern. Da ist sie, die Erinnerung an das Urbild der Krippe, wo nur Ochs und Esel daneben stehen: Sie sind die Gesellschaft des Neugeborenen und zugleich dessen größte Gefahr.

Am Ende strandet das Boot in Mexico. Dort wird Pi Patel von zwei japanischen Versicherungsagenten aufgesucht, die die Geschichte mit Tieren für ein ausgedachtes Märchen halten. Darauf erzählt Pi Patel die ganze Geschichte als umgedrehte Fabel: Wo eigentlich Tiere spielen müssten, setzt er Menschen ein. Am Ende glauben die nüchternen Japaner doch die Geschichte mit den Tieren.

In den letzten 100 Jahren ist die Zahl der Tiger weltweit um 95 Prozent gesunken. Er gehört zu den Wesen, denen die Freiheit nicht zum langen Leben verhilft: Im Zoo werden Tiger 25 Jahre alt, in Freiheit schaffen sie kaum 18 Jahre. Der einzige Feind des Tigers ist der Mensch.

So stecken ganz viele Motive in dem Bild von dem einsam monatelang dahin treibenden Rettungsboot, in dem ein Junge und ein Tiger sitzen. Wie im Stall von Bethlehem der niedere Alltag und die Herrlichkeit Gottes aufeinander treffen, so treffen sich angesichts der Gefahr, die von einem gewaltigen Tiger ausgeht, auf dem Rettungsboot zwei Dimensionen eines Menschen: Einerseits muss er mittels seiner Vernunft die Lage unter Kontrolle halten, mit biologischen und psychobiologischen Kenntnissen sein Überleben sichern. Auf der anderen Seite gerät der Kampf ums Dasein in eine Tiefe Krise, wenn von zwei Seiten der Tod droht. Was nützt es, dem Tiger zu entkommen, wenn ich ohnedies ertrinken muss? Was nützt es jeden Tag für Nahrung und Wasser zu sorgen, wenn ich eines Tages ohnedies vom Tiger geholt werde? Dabei wird das Ringen um jeden neuen Tag zugleich auch zum Ringen um den Glauben. Im Buch heißt es:

„Ich hielt meine Gottesdienste ab, so gut es ging einsame Messen ohne Priester und ohne geweihte Hostie, Darshans ohne Murtis und Pujas mit Schildkrötenfleisch …, Gebete zu Allah, auch wenn ich nicht wusste, in welcher Richtung Mekka lag und mein Arabisch mehr als dürftig war. Sie waren mir ein Trost, das steht fest. Aber es war schwer, das muss ich sagen. Der Glaube an Gott ist ein Sichöffnen, ein Loslassen, ein tiefes Vertrauen, eine bedingungslose Liebe – aber manchmal war es so schwer zu lieben. Manchmal sank mein Herz vor Wut, Verzagtheit und Erschöpfung so tief, dass ich befürchtete, es würde bis ganz hinab auf den Grund des Pazifiks sinken und ich würde es nie wieder heraufziehen können.“

Die Krippe inmitten zweier gefräßiger Mäuler.
Das Rettungsboot, unter dem die Haie kreisen und in dem ein bengalischer Tiger sitzt.
Gefährdung und Gesellschaft.
Tödliche Gefahr und Lebensverlängerung.

Ein Bild von göttlichen Dimensionen: Bevor man begann, nur noch die zarte, freundliche Seite Gottes zu verkündigen, war auch im Christentum klar, dass eine Dimension Gottes bei uns Furcht und Zittern auslöst. Gott ist der, der ins Leben ruft – aber auch wieder aus dem Leben herausruft. Gott ist der, der bei uns ist, zu jeder Zeit, - Gott ist aber auch der, der sich nicht zwingen lässt, dass er in unserem Sinne wirkt, auch wenn wir sein Eingreifen noch so sehr erbitten. Das Bild von dem Tier im Rettungsboot, das Bild von Ochs und Esel an der Krippe, dieser schlichte Anblick verbindet uns mit dem großen Rätsel des Göttlichen.Das große Rätsel, von dem der Titusbrief sagt, dass es uns selig macht, wenn die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes, unseres Heilands, erscheint.

Gott macht uns selig nicht weil wir das so wollen, sondern weil er barmherzig ist. – Er lässt uns durch die Taufe neu werden, er schickt den heiligen Geist der uns immer wieder erneuert, den er über uns reichlich ausgegossen hat durch Jesus Christus, unsern Heiland. Durch die Gnade von Jesus Christus werden wir gerecht, damit wir auf das ewige Lebens hoffen können.

Das Rätselbild von der Geburt im Stall, aber auch neue Bilder und Geheimnisse führen uns immer wieder vor Augen, dass wir nicht aus unserer Machtvollkommenheit zu Hochleistungsgläubigen werden, sondern nur, indem wir geduldig auf Gott vertrauen. Das fällt auch nicht leicht, wenn im Boot unseres Lebens kein Tiger sitzt. Aber es kann uns gelingen, weil da einer im Stall geboren ist und sich aus freier Liebe heraus der Gefahr ausgesetzt hat, die einer riskiert, der sich in einen Futtertrog legt.

Gott schenke Du uns die Geduld, auf Dein Wirken zu warten, komm DU zu uns, denn Dein Friede, welcher höher ist denn alle Vernunft, bewahre unsre Herzen und Sinne in Christo, Jesu, Amen.