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Freudenepistel wird die Stelle im Brief des Apostel Paulus an die Gemeinde in Philippi genannt, von der die Predigt von Ralf-Andreas Gmelin am 4. Advent 2003 ausgeht. Paulus, der in seinen Briefen auch oft klagt, klarlegt oder falsche Auffassungen bekämpft, fordert hier nachdrücklich zur Freude auf (Phil 4,4-7):

Freuet euch in dem Herrn allewege, und abermals sage ich: Freuet euch! Eure Güte lasst kund sein allen Menschen! Der Herr ist nahe! Sorgt euch um nichts, sondern in allen Dingen lasst eure Bitten in Gebet und Flehen mit Danksagung vor Gott kundwerden! Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

HERR, tu meine Lippen auf, dass mein Mund DEIN Wort verkündige, Amen.

Ich öffne die Tür.
Dahinter öffnet sich groß, still und leer ein Kirchenraum.
Ich trete ein.
Irgendwo suche ich mir einen Platz.
Nicht zu weit vorn.
Irgendetwas beginnt dort vorn.
Die Orgel spielt. Worte werden gesprochen.
Und es beginnt etwas in mir.
Ich weiß nicht mehr, warum ich heute Morgen losgegangen bin,
mir ist egal was gestern und vorgestern war,
es ist auch nicht einmal wichtig, dass ich in einer Kirche bin, in einem Gottesdienst.
Heute beginnt etwas Neues. Ich werde in mein Leben von gestern niemals mehr zurückkehren. Ich weiß nicht, wohin das Neue mich führt, aber es wird mich verwandeln, es hat mich verwandelt.

Kennen Sie eine solche Sehnsucht? Die Sehnsucht, dass Sie Ihr altes Ich hinter sich lassen und ein neuer Mensch werden?

Ich zitiere ungern Johann Wolfgang von Goethe, aber im Studierzimmer des „Faust“ hat Goethe diese manchmal sogar lebensbedrohliche Sehnsucht genial geschildert. Faust, dieser leidenschaftliche Perfektionist des Fortschritts will sich mittels der Wissenschaft in eine höhere Existenz verwandeln. Es gelingt ihm, einen Erdgeist zu beschwören. Er sucht die Gewissheit, dass er mehr ist als nur ein nervöser, neugieriger Mensch. Faust spricht:
“Der du die weite Welt umschweifst,
Geschäftger Geist, wie nah fühl ich mich dir.“

Die Antwort des Geistes ist eine Abfuhr:
„Du gleichst dem Geist, den du begreifst,
Nicht mir!“

Faust hat eine lange Vorbereitung hinter sich. Die Beschwörung hat einen langen Anlauf genommen. Die Vorfreude war überschwänglich:
„Ha, wies in meinem Herzen reißt! Zu neuen Gefühlen
All meine Sinnen sich erwühlen!
Ich fühle ganz mein Herz dir hingegeben!
Du mußt! Du mußt! Und kostet’ es mein Leben!“

Aber nach diesem Anlauf langt es nur für einen lächerlichen Hopser. Und nach dem Bauchplatscher mit dem Erdgeist kommt zu allem Überfluss auch noch der Schüler Wagner zu Faust, der ihn noch weiter herunterzieht. Vermutlich darum, weil Wagner das Spiegelbild des Faust ist. Genau wie sein Meister versucht er auf dem Wege der Wissenschaft zur Perfektion zu gelangen:
„Mit Eifer hab ich mich der Studien beflissen;
Zwar weiß ich viel, doch möchte ich alles wissen.“

Faust hat nur Verachtung für diese leidenschaftslose Neugier, die ihn einmal selbst getrieben hat. Wer immer nur das wiederkäut, was andere vor ihm gedacht haben, ist einer, der
„Mit gier’ger Hand nach Schätzen gräbt,
Und froh ist, wenn er Regenwürmer findet.“

In der hohlen Trauer um eine enttäuschte Vorfreude, sieht sich Faust verwandelt: Aber nicht in einen stolzen Geist, sondern in einen „Wurm im Staube“. Er hat sein Leben zugebracht, um in Büchern Nützliches zu finden. Und nun verwandelt sich seine Bibliothek in Staub und er selbst ist der Wurm, der dort seine Spur gezogen hat:
„Der Trödel, der mit tausendfachem Tand
In dieser Mottenwelt mich dränget?
Hier soll ich finden, was mir fehlt?
Soll ich vielleicht in tausend Büchern lesen,
Dass überall die Menschen sich gequält?“

Der einzige Ausweg, zu dem Faust findet in seiner enttäuschten Vorfreude, ist der Freitod.Und in der Dimension seines Größenwahns kommt es noch schlimmer. Als er sich das Gift einflößen will, ertönen die Glocken des Ostermorgens. Und Erinnerungsfetzen von Osterchorälen ziehen ihm das Gift von den Lippen.

In dieser prekären Mischung von Enttäuschung, Depression, geistlicher Erinnerung und Auferstehung aus dem Todeswunsch, spricht Faust die Auseinandersetzung mit seiner religiösen Vergangenheit, die in unseren Tagen mehr zum Weihnachtsfest passt als zum – im öffentlichen Bewusstsein fast völlig verschwundenen - Osterfest:
„Was sucht ihr, mächtig und gelind,
ihr Himmelstöne mich am Staube?
Klingt dort umher, wo weiche Menschen sind.
Die Botschaft hör ich wohl,
allein mir fehlt der Glaube;
das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind.
Zu jenen Sphären wag ich nicht zu streben.
Woher die holde Nachricht tönt; -
Und doch, von Jugend auf an diesen Klang gewöhnt,
Ruft er auch jetzt zurück mich in das Leben.
Sonst stürzte sich der Himmelsliebe Kuß
Auf mich herab in ernster Sabbatstille.
Da klang so ahnungsvoll des Glockentones Fülle,
Und ein Gebet war brünstiger Genuß;
Ein unbegreiflich holdes Sehnen
Trieb mich durch Wald und Wiesen hinzugehn,
Und unter tausend heißen Tränen
Fühlt ich mir eine Welt entstehn. …“

Wir verlassen hier wieder Goethes Faust und überlassen ihn den Abenteuern mit dem teuflischen Mephisto. Wir nehmen aber aus dieser Szene im Studierzimmer diese Folge von Gefühlen mit: Das Sehnen, das ihn erst in den Selbstmord treiben will, weil sich das gewünschte Wunder nicht einstellt. Und dann die sentimentale Erinnerung an seine Kindheit, an eine Zeit, in der ein Gebet noch ein leidenschaftlicher Genuss sein konnte, eine Zeit, die ihn jetzt die Engel singen hören lässt und in ihm das Wunder der Umkehr bewirkt, das er gar nicht wollte, und das er im Grunde seines Herzens verachtet. -

Ich denke, dass in den unterschiedlichen Weisen, in denen wir im Advent Weihnachten vorbereiten, dass die verschiedenen Arten, wie wir auf Weihnachten hin Anlauf nehmen, eine mehr oder weniger uneingestandene Hoffnung steckt, ein Sehnen, dass ein kleines Wunder geschehen soll:

Ein Wunder aus der Zukunft, das auf mich zukommt, soll meine Gegenwart verwandeln, damit ich wieder kindlich, naiv und unvorbelastet wie in der Vergangenheit eine Ahnung vom Großen, Heiligen und Bedeutenden bekomme. Manchmal wird diese Sehnsucht den anderen aufgegeben: „Ich bereite alles vor, damit meine Familie die Chance hat, ein Wunder zu erleben.“ Manchmal wird alles hinter den Kindern versteckt: „Wir feiern ja nur wegen der Kinder.“

Aber in solchen Übertragungen steckt immer der Keim einer schweren Enttäuschung: Wie soll die Familie, wie sollen Kinder in einem Fest etwas finden, das von Menschen  vorbereitet wird, die sich nicht trauen, selbst noch Erwartungen zu haben – und darum alles tun, ihre Enttäuschung klein zu halten. Gegen eine drohende Enttäuschung hilft natürlich, schon zuvor die Erwartungen auf Null zu stellen. Aber endet da meine Sehnsucht, dass ich erfasst werde, im Tiefsten angesprochen und verändert?

Martin Luther hat uns hinterlassen, dass es ein schmerzlicher, ja gewaltsamer Prozess ist, sich von seinem alten Ich zu befreien. In seiner direkten, drastischen Art meinte er: Er müsse seinen alten Adam täglich ersäufen. Der alte Adam ist der natürliche Mensch, der in seiner Neugier jede Frucht anbeißt, auch wenn es ihm schaden wird. Der alte Adam ist der Mensch, der sein Leben durchhuscht, als ginge ihn das alles nichts an: Ihm reicht es, wenn er sich vor dem Fernseher für 45 Minuten in einen Helden verwandelt. Ihm genügen ein paar virtuelle Meisterleistungen mit Joystick und Mattscheibe. Der alte Adam ist der, der sich groß machen möchte und im Falle einer Enttäuschung in sich zusammenfällt. Der alte Adam ist cool wie eine Leiche, weil er alles Lebendige für eine Gefahr hält. Grund zur Freude gibt es für ihn nicht. Er will dem Augenblick niemals sagen: Verweile doch, du bist so schön! Gelacht wird nur über andere: Aus Schadenfreude, aus Hass oder aus Überheblichkeit. - Niemals aus Freude.

„Freut euch im Herrn.“
Der alte Adam hat im Herrn nichts verloren. Er bunkert sich ein im Eis seiner eigenen Gefühle, seiner Wertungen, seiner unerfüllbaren Sehnsucht, die er nicht wahrhaben will und unterdrückt.

„Und abermals sage ich: Freut Euch!“
Der Mensch beginnt mit der Freude, wo er sich traut, den alten Adam abzulegen, loszulassen, zu ersäufen. Und damit muss ich das Wunder zulassen: Mir kann es geschehen, dass ich ein anderer Mensch, dass ich ein neuer Mensch werde. Es gibt ungezählte Wege, ein neuer Mensch zu werden. Der christliche Weg führt hinein in eine Verwandlung durch Gott. Diese Verwandlung geschieht, wie ein Kind geboren wird. Dann wächst etwas heran, das neu und unverwechselbar ist. In Gott leben ist ein Leben für das Leben.

Wie das geht? Das hatte uns Paulus verraten:
„Eure Güte lasst kund sein allen Menschen!
Der Herr ist nahe!
Sorgt euch um nichts,
sondern in allen Dingen lasst eure Bitten in Gebet und Flehen mit Danksagung vor Gott kundwerden!"

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen