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Am Reformationstag 2003 ging die Predigt von Ralf-Andreas Gmelin von den Seligpreisungen aus, die Jesus Christus in der Bergpredigt Matthäus 5, 1-12 verkündigt:

Ein Geschichte aus dem Matthäusevangelium führt uns auf einen Berg am See Genezareth. Lassen Sie uns in dieser lieblichen Hügellandschaft Platz nehmen und auf die Bergpredigt hören, die Jesus uns hält:

„Als er aber das Volk sah, ging er auf einen Berg und setzte sich; und seine Jünger traten zu ihm.
Und er tat seinen Mund auf, lehrte sie und sprach:
Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich.
Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden.
Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen.
Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.
Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.
Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen.
Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen.
Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich.
Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen und reden allerlei Übles gegen euch, wenn sie damit lügen. …“

HERR, tu meine Lippen auf, dass mein Mund Deinen Ruhm verkündige.

Liebe Gottesdienstgemeinde,

Was ist ein Mensch?
Was ist ein Mensch wert?

Im Hinblick auf diese Frage ist die Reformationszeit eine Revolution. Das Leben des Einzelnen ist zuvor nicht viel wert. In diesen Tagen wird diese Frage wieder neu und bedrängend seitens der Politik aufgeworfen: Was bedeutet Leben heute? Was bedeutet es, wenn menschliche Keime zusammengefügt werden, wenn der Mensch im Reagenzglas einen Menschen zeugt und scheinheilig fragt:

„Ist das überhaupt ein Mensch?“

Oder in den Worten der Bundesjustizministerin Brigitte Zypries fehlt dem Embryo, den Menschen zu verantworten haben „eine wesentliche Voraussetzung dafür, sich aus sich heraus zum Menschen oder "als" Mensch zu entwickeln", Brigitte Zypries meint: "Die lediglich abstrakte Möglichkeit, sich in diesem Sinne weiterzuentwickeln, reicht meines Erachtens für die Zuerkennung von Menschenwürde nicht aus." Die befruchtete Eizelle in der Petrischale habe lediglich "die Perspektive", das auszubilden, was wesentliche Bestandteile der Menschenwürde seien. Die Bundesjustizministerin definierte Menschenwürde als "umstritten, seit es das Grundrecht gebe": "Ganz gewiss gehört dazu der Respekt vor dem Eigenwert jeder Person und jeder individuellen Existenz. Genauso wie die Möglichkeit der Eigenverantwortung und der selbst bestimmten Lebensgestaltung."

Schauen wir auf alte Antworten, die die Reformationszeit zu einer Zeit macht, in der man vom menschlichen Embryo noch nicht wusste, zu einer Zeit, die aber gleichsam den Embryo des modernen Menschen austrug. Ich lasse noch einmal Egon Friedell sprechen, der in seiner „Kulturgeschichte der Neuzeit“ die Spuren der Reformation verfolgt, die wir bis heute wahrnehmen können:

„Das  Moderne in Luthers Denken beruht im wesentlichen auf drei Momenten. Zunächst auf seinem Individualismus. Dadurch, daß er die Religion zu einer Sache des inneren Erlebnisses machte, hat er auf dem höchsten Gebiete menschlicher Seelenbetätigung etwas Ähnliches vollbracht wie die italienischen Künstler auf dem Gebiete der Phantasie. In der Anweisung Luthers, dass jede Seele sich ihren eigenen Gott aus dem Innersten neu erschaffen müsse, lag die letzte und tiefste Befreiung der Persönlichkeit. Hiermit verband sich aber als zweites ein demokratisches Moment. Indem Luther verkündete, dass jeder Gläubige von wahrhaft geistlichem Stande, jedes Glied der Kirche ein Priester sei, vernichtete er das mittelalterliche Stellvertretungssystem, das der Laienwelt den Verkehr mit Christus nur durch besondere Mittelspersonen: durch Christi Statthalter und dessen Beamtenhierarchie gestattet hatte, und führte damit in das kirchliche Leben dasselbe Gleichberechtigungsprinzip ein, das die französische Revolution später in das politische Leben brachte. Und drittens hat er dadurch, dass er das ganze profane Leben des Tages für eine Art Gottesdienst erklärte, ein ganz neues weltliches Element in die Religion gebracht. Mit der Feststellung, dass man überall und zu jeder Stunde, in jedem Stand und Beruf, Amt und Gewerbe Gott wohlgefällig sein könne, hat Luther eine Art Heiligsprechung der Arbeit vollzogen: eine Tat von unermesslichen Folgen, …“

So weit der österreichische Schriftsteller und Kabarettist Egon Friedell. Friedell weiß, dass Luther kein moderner Mensch war: Die Entdeckungen seiner Zeit von der Astronomie bis hin zu Amerika waren ihm eher verdächtig als willkommen. Luther war kein moderner Freigeist, der sich von allem frei und unabhängig bewegen wollte. Sein ganzes Denken ist an Jesus Christus orientiert. Wenn Glaube und Vernunft im Widerstreit liegen, dann steht Luther immer auf der Seite des Glaubens.

Wenn jemand bestreitet, dass der auferstandene Jesus Christus nicht gleichzeitig mit seinem Leib in dem Brot des Abendmahls sein könne, dies widerspreche dem ersten Satz jeder Logik, dem Identitätsprinzip: Dann kennt Luther etwas Größeres als die Logik: Gottes Befehl. Wenn Gott es befiehlt, hat die Vernunft zu schweigen: “Weil da Gottes Wort steht, ’Dies ist mein Leib’ – dürr und hell - … muß man dieselben mit dem Glauben fassen und die Vernunft so blenden und gefangen geben; und also nicht wie die spitzige Sophisterei; sondern wie Gott uns vorspricht, nachsprechen und dran halten!“ So drückt das Luther in seiner Abendmahlsschrift von 1528 aus. Wenn Gott befiehlt, muss sich die Vernunft geschlagen geben, vor Gott ist sie blind und befangen. Gottes Wort ist nachzusprechen und nachzuleben, auch wenn ich es nicht verstehe, weil es Sein Befehl ist.

Luther, das haben wir von Egon Friedell gehört, ist ein Mensch, der der Moderne Tür und Tor weit macht und sie öffnet. Aber er selbst tritt nicht durch diese Tür. Er bleibt gebunden an Gottes Wort, an Gottes Befehl, an seiner Liebe zu Jesus Christus. Gebunden an die  Erfahrung, mit Gott eins zu sein, die er in seinem ersten Eucharistieerlebnis hatte und die er nicht mehr abgelegt hat. Da, wo sich die Moderne nicht von einer bevormundenden Kirche löst, sondern sich frei macht von ihrem Gott und Schöpfer, da kann sie sich nicht auf Martin Luther berufen. -

Prüfen wir die Frage nach der Menschenwürde für den Embryo in der Petrischale anhand der Modernität Luthers:

Die Individualität, die Absonderung des Einzelnen von dem Rest der Welt findet in solchen Embryos eine traurige Steigerungsstufe: Die auf den Mutterbauch angewiesene Frühphase menschlichen Lebens in einem sterilen Labor ist eine kaum zu überbietende Extremform von Individualimus, auch wenn solche Individuen nicht allein überleben können. Diese Erkenntnis hilft uns nicht, die Frage nach dem Wert des Embryonenlebens zu beurteilen.

Der zweite Punkt ist schon viel mehr verwoben mit der Glaubenswelt Luthers: Das Priestertum aller Gläubigen ist aus moderner Perspektive die Zerstörung des alten Priesterstandes. Aus der christlichen Anschauung erhebt sie jeden Christen zu einem Menschen, der unmittelbar zu Gott ist. In der modernen Sichtweise gibt es keinen Grund, den Embryo in der Petrischale zu schützen. –  Wer in dem noch nicht allein lebensfähigen Zellverband, ein zukünftig von Gott persönlich beim Namen gerufenes Geschöpf erblickt, der wird ein gewisses Unbehagen verspüren, wenn er es zu anderen Zwecken nutzt, als es zum Menschen reifen zu lassen.

Der dritte Gesichtspunkt, dass das alltägliche Leben eine Art Gottesdienst sein kann, das die Welt der Berufe und des Erwerbs in die Nähe der Religion versetzt hat, dieser Gesichtspunkt kann zu zwei verschiedenen Ansichten führen: Gerade wir Evangelischen folgen gern einer „Heiligsprechung der Arbeit“, indem wir von vielen Berufen fordern, dass sie im Einklang mit sozialen, politischen und weltanschaulichen Ideen stehen, die wir mit unserem christlichen Glauben verbinden– gern fordern wir es konsequenter von Politikern als von uns selbst -. Typisch evangelisch ist, die Bundesjustizministerin zu kritisieren, dass sie mit ihrem Vorstoß die Grundlage christlicher Werte verlassen habe.

Es geht indes auch anders herum: Wenn Luther sagt, dass eine einfache Frau, die mit christlicher Gesinnung die Stube kehrt, genau so Gottesdienst feiert wie die „Priester in Röcken“, dann kann auch der Mann im weißen Kittel darauf verweisen, dass seine Arbeit mit Embryonen Gottesdienst sei, wenn er sie nur mit der rechten Gesinnung tue. Und das lehrt uns gerade die Moderne, dass auch einer der mit Menschenleben leichtfertig umgeht, ein braver Familienvater sein kann, der das alles nur tut, um seinen Lieben ein schönes Leben zu ermöglichen. Der moderne Luther hilft uns wenig, mit der Frage umzugehen, ob der Vorstoß der Frau Justizministerin mit den Maßstäben der Reformation christlichen Glaubens in Übereinstimmung steht.

Der altertümlich glaubensfeste und bibeltreue Luther ist uns da weitaus ferner, aber er lebt so, als würde das Wort Christi in seine Gegenwart gesprochen:

„Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.
Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.
Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen.“

Die „spitzigen Sophistereien“ vernünftiger Menschen finden immer eine Ausrede, können alles mit jedem in Übereinstimmung bringen. Dieser Christus, der mit seinem Leib und seinem Blut in mich kommt beim Abendmahl, auch wenn das logisch völlig ausgeschlossen ist, auch wenn er zugleich im Himmel oder überall auf der Erde ist, dieser Jesus Christus fragt weitaus eindeutiger:

Bist du gerecht, wenn du mit der schwächsten Form menschlichen Daseins deine Experimente machst, wenn du darauf hoffst, dass du etwas erfindest, das du teuer verkaufen kannst? Bist du barmherzig, wenn du Gott spielst, wenn du mit einer Energie, die zum Menschen werden will, deine Karriere vorantreiben willst? Und schließlich: Bist du wirklich reinen Herzens, wenn du mit dem Zynismus des Labors aussuchst, was aus werdenden Menschen wird: Ersatzteile für Leute, die sich’s leisten können, Hautsalben für Erwachsene die zu eitel sind, um die Falten ihres Alters zu ertragen oder Zuchtmaterial für Versuchsmenschlein?

Der altmodische Christ Luther folgt dem, der in seiner Bergpredigt denen Hoffnung macht, die nach Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und einem reinen Herzen Sehnsucht haben. Jesus Christus lässt keinen sophistischen Fluchtweg: Er fragt durchdringend und klar. Die alte Kirche, gegen die sich Luther wendet, hat für jede ihrer Verfehlungen – bis heute – bücherweise sophistische Ausreden, Ausflüchte, korrupte Paragraphen. Darin ist ihr die Moderne gefolgt.

Luthers Wirkung wird nicht „Erneuerung“, nicht „Modernisierung“ sondern „Reformation“ genannt: In diesem Wort steckt, dass es nicht um Fortschritt oder Erneuerungskult ging. Jesus Christus hat die vor Gott geltende ewige Norm aufgezeigt. Die Kirche hat dieses wertvolle Erbe korrumpiert und vergessen. Jetzt gilt es, diese Werte wieder neu zum Leben zu erwecken und mit ihnen die Kirche zu „reformieren“. Luther selbst hat gehofft, dass einmal eine „Reformation“ kommen wird. Er hat niemals gedacht, dass er sie selbst herbeiführen würde. Er sagt: „Die Zeit dieser Reformation aber kennt allein der, der die Zeiten geschaffen hat.“

Luther ist kein Modernisierer. Ein letztes Zitat von Egon Friedell: „’Neues’ hat Luther in der Tat wenig gebracht. Aber hierin besteht auch gar nicht die Aufgabe des großen Mannes auf dieser Erde. … Das Genie tut den letzten Spatenstich: das, nicht mehr und nicht weniger, ist seine göttliche Mission. Es ist kein Neuigkeitenkrämer. Es sagt Dinge, die im Grunde jeder sagen könnte, aber es sagt sie so kurz und gut, so tief und empfunden, wie sie niemand sagen könnte.“

Das Genie Luther ist nicht der Modernisierer, sondern der, der gegen den Rest der Welt Jesus Christus zu seinem Recht verhelfen will. Das verbindet auch unsere Kirche mit der Reformation: Sie erinnert jeden Tag an den, der uns verkündet:

„Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen.
Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich.“

Aus diesem Grund steht seit 1894 die Ringkirche in diesem Stadtteil und ruft mit ihren Glocken zwei Mal am Tag, dass wir die alte Botschaft nicht vergessen.

Gott, lass diese Botschaft in unseren Herzen auf fruchtbaren Boden fallen, denn DEIN Friede, welcher höher ist denn alle Vernunft, bewahre unsre Herzen und Sinne in Christo, Jesu, Amen.

Wir singen das Reformationslied nach dem eingangs gesprochenen Psalm: „Ein feste Burg ist unser Gott…“