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Am dritten Sonntag nach Trinitatis, den 6. Juli 2003 geht die Predigt von Ralf-Andreas Gmelin aus von dem Gleichnis Jesu, das die Geschichte vom „verlorenen Sohn“ erzählt:

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und dem HERRn Jesus Christus.

Die Geschichte vom „Verlorenen Sohn“ im Lukasevangelium gehört zu den bekanntesten Gleichnissen der Bibel. Jesus erzählt:
„Es nahten sich Jesus aber allerlei Zöllner und Sünder, um ihn zu hören. Und die Pharisäer und Schriftgelehrten murrten und sprachen: Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen. Er sagte aber zu ihnen dies Gleichnis und sprach: …
Ein Mensch hatte zwei Söhne. Und der jüngere von ihnen sprach zu dem Vater: Gib mir, Vater, das Erbteil, das mir zusteht. Und er teilte Hab und Gut unter sie. Und nicht lange danach sammelte der jüngere Sohn alles zusammen und zog in ein fernes Land; und dort brachte er sein Erbteil durch mit Prassen. Als er nun all das Seine verbraucht hatte, kam eine große Hungersnot über jenes Land, und er fing an zu darben und ging hin und hängte sich an einen Bürger jenes Landes; der schickte ihn auf seinen Acker, die Säue zu hüten. Und er begehrte, seinen Bauch zu füllen mit den Schoten, die die Säue fraßen; und niemand gab sie ihm. Da ging er in sich und sprach: Wie viele Tagelöhner hat mein Vater, die Brot in Fülle haben, und ich verderbe hier im Hunger! Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir. Ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße; mache mich zu einem deiner Tagelöhner! Und er machte sich auf und kam zu seinem Vater. Als er aber noch weit entfernt war, sah ihn sein Vater, und es jammerte ihn; er lief und fiel ihm um den Hals und küsste ihn. Der Sohn aber sprach zu ihm: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir; ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße. Aber der Vater sprach zu seinen Knechten: Bringt schnell das beste Gewand her und zieht es ihm an und gebt ihm einen Ring an seine Hand und Schuhe an seine Füße und bringt das gemästete Kalb und schlachtet's; lasst uns essen und fröhlich sein! Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist gefunden worden. Und sie fingen an, fröhlich zu sein. Aber der ältere Sohn war auf dem Feld. Und als er nahe zum Hause kam, hörte er Singen und Tanzen und rief zu sich einen der Knechte, und fragte, was das wäre. Der aber sagte ihm: Dein Bruder ist gekommen, und dein Vater hat das gemästete Kalb geschlachtet, weil er ihn gesund wiederhat. Da wurde er zornig und wollte nicht hineingehen. Da ging sein Vater heraus und bat ihn. Er antwortete aber und sprach zu seinem Vater: Siehe, so viele Jahre diene ich dir und habe dein Gebot noch nie übertreten, und du hast mir nie einen Bock gegeben, dass ich mit meinen Freunden fröhlich gewesen wäre. Nun aber, da dieser dein Sohn gekommen ist, der dein Hab und Gut mit Huren verprasst hat, hast du ihm das gemästete Kalb geschlachtet. Er aber sprach zu ihm: Mein Sohn, du bist allezeit bei mir, und alles, was mein ist, das ist dein. Du solltest aber fröhlich und guten Mutes sein; denn dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist wiedergefunden.“

Herr, tu meine Lippen auf, dass mein Mund DEINEN Ruhm verkündige.

Liebe Gottesdienstgemeinde,
genau 10 Jahre ist es her, da ging im Mai 1993 die Geschichte einer gescheiterten Heimkehr durch die Presse:
„Ein 30 Jahre alter Obdachloser ist am Donnerstag bei einem Streit vor der Wohnung seiner Mutter in Koblenz erstochen worden. Der Täter, der 21 Jahre alte Sohn einer Nachbarin, wurde festgenommen. Die Mutter des Obdachlosen hatte ihren betrunkenen Sohn nicht in die Wohnung lassen wollen. Als die Nachbarin eingriff, um den Mann zu beruhigen, gab er ihr eine Ohrfeige, was wiederum den Sohn der Nachbarin auf den Plan rief. Der junge Mann versetzte dem Obdachlosen zwei Messerstiche in Hals und Brust. Der Obdachlose starb an den Verletzungen, bevor der Notarzt eintraf. Das teilte die Staatsanwaltschaft am Freitag mit.“ -

Das Szenario dieser tragischen Geschichte ist bedrückend ähnlich wie die Geschichte, die Jesus erzählt. Da ist ein Sohn verloren gegangen. Im Gleichnis hatte er eine Chance und er hat sie verspielt. Er ist mit einem kleinen Vermögen in die Welt gezogen und hat es ausgegeben. Er hat die Rolle des reichen Erben solange gespielt, bis er sie ausgespielt hatte. Als der Beutel leer war, begann er zu arbeiten. Er hielt sich mit einer Arbeit über Wasser, die damals als das Unwürdigste angesehen wurde, was einer tun kann.

Von dem Sohn aus Koblenz wissen wir nichts. Wir wissen nicht, ob er von zu Hause ausgerissen ist, ob er ohne Schulbildung herumgezogen ist, oder ob er sich bemüht hat, auf eigenen Füßen zu stehen, bevor er abgerutscht und an der Flasche hängen geblieben ist. Wir wissen von dem Sohn aus Koblenz, dass er eines Tages vor der Wohnungstür seiner Mutter steht. Wir wissen nicht, ob es sein Zuhause war, oder eine neue Wohnung der Mutter. Er möchte hinein. Wir kennen seine Gedanken nicht. Es beginnt ein tödlicher Streit. Die Tür bleibt zu. Der Sohn aus Koblenz ist betrunken. Er will sich nicht abweisen lassen. Die Nachbarin bemüht sich um Vermittlung. Und es kommt zur Katastrophe.

Bei dem verlorenen Sohn kennen wir die Gedanken. Jesus lässt uns mitbekommen, warum er heimkehrt: Er will nicht warm duschen, er will nicht einfordern: Ich bin doch Dein Sohn! Mach auf! - Er möchte seinen Vater bitten, ihn gerechter zu beschäftigen als er es bei der Schweinezucht erlebt, wo er nicht einmal den Wert genießt, das Schweinefutter mitessen zu dürfen.

Hier beginnt der gravierende Unterschied zwischen den beiden Geschichten: Der verlorene Sohn kehrt um. Seine Heimkehr beginnt im Kopf. Lange, bevor er vor der Haustür seines Vaters steht. Er ist nicht mehr der Vorstadt-Gigolo, der vor Jahren in die Welt gezogen ist. Er ist nicht mehr von Beruf Sohn. Er ist nicht mehr der Aufschneider und Weiberheld von einst. In der alten kirchlichen Sprache heißt es: Er ist „geläutert“, befreit von diesen Rollenzwängen. Er hat erkannt, worauf es im Leben ankommt. Und daraus zieht er den Schluss: Ich habe falsch gehandelt. Ich will so nicht weiter leben.

Wir kennen die Gedanken nicht, die den Sohn aus Koblenz vor die Tür seiner Mutter führen. Wir können nur aus den Angaben der kleinen Pressenotiz schließen, dass es anders war. Der heimkehrende Sohn ist betrunken. Wir kennen seine Mutter nicht: Aber wie groß muss die Angst oder die Verzweiflung einer Mutter sein, dass sie ihren Sohn nicht hinein lässt? Der heimkehrende Sohn aus Koblenz kommt nach hause, aber er ist nicht umgekehrt: Er ist der, der er auf der Straße geworden ist: Hart, betrunken, fordernd. Vielleicht wünscht er sich eine Erlösung, wie in der Geschichte vom verlorenen Sohn. Aber sie hat noch nicht stattgefunden als er vor der Tür seiner Mutter steht. Im Gleichnis vom verlorenen Sohn folgt einem Wunder das nächste Wunder:

Die Geschichte in Koblenz erlebt keines dieser Wunder. Sie läuft ab in der alltäglichen Folgerichtigkeit von Gewalt und Gegengewalt: Der Sohn kehrt heim, aber er will als der Alte hereingelassen werden, der er nun mal ist. Vielleicht hat er tief im Herzen eine Sehnsucht, dass etwas mit ihm anders werden soll, aber er bekommt die Kurve nicht. Er kehrt heim, aber er kehrt nicht um. Er ist nicht geläutert. An ihm klebt das ganze alte Leben, als er vor der Tür seiner Mutter auftaucht: Seine Unfähigkeit, sein Leben in den Griff zu kriegen, seine Abhängigkeit vom Alkohol, seine Forderung, eingelassen zu werden, die viel lauter durch das Treppenhaus schallt als die leise Hoffnung auf ein neues Leben, das vielleicht tief in ihm vergraben liegt. Wenn er auf das Wunder einer offenen Tür gehofft hat, hat ihn diese Hoffnung getrogen: Die Tür bleibt zu. Und dann folgt der Showdown. Der mutige Einsatz der Nachbarin. Sie geht hinaus zu dem betrunkenen Heimkehrer. Ihr Lohn sind Ohrfeigen. Gegen diese Gewalttätigkeit die überbordende Verteidigung der Mutter durch den Nachbarssohn: Sein Messer mordet ein Menschenleben. Die beiden verlorenen Söhne erleiden ein sehr ungleiches Schicksal:
Der, der innerlich umgekehrt ist, wird mit allen Ehren in die Liebe seiner Familie zurückgeholt. Der, der heimgekehrt ist und die Umkehr nicht geschafft hat, wird vor der Tür der Mutter das Opfer von seiner Gewalt und von der Gegengewalt, die sie hervorrief.

Wie jedes Gleichnis Jesu hat die Geschichte vom verlorenen Sohn eine Bedeutung, die auf das Verhältnis des Menschen zu Gott hinweist:
Wer innerlich umkehrt, dem läuft Gott entgegen und nimmt ihn in seine Arme auf. Auch wenn der Rest der frommen Welt dabeisteht und grummeld fragt, was das denn soll. Die Geschichte aus Koblenz ist im Gleichnis vom Verlorenen Sohn nicht vorgesehen. Wir können indes vermuten: Die Heimkehr ohne Umkehr würde auch hier keine offenen Arme hervor rufen. Der Ausruf des Vaters: „Du solltest aber fröhlich und guten Mutes sein; denn dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist iedergefunden.“ Dieser Ausruf bezieht sich auf die Umkehr des Sohnes - nicht auf seinen Fußmarsch.

Die Geschichte von dem heimkehrenden Sohn, der nicht umkehren konnte, dreht den Ausruf um: Dieser Bruder ist lebendig gewesen und ist jetzt tot. Er war weit weg und hat nicht heimkehren können.

Als Gleichnis verweist uns die Geschichte von der gescheiterten Heimkehr auf unsere eigene Unfähigkeit zur Umkehr. Ich glaube nicht, dass wir es schwerer haben als die Menschen zur Zeit Jesu, aber ich glaube, dass wir Menschen immer schwer daran tragen, wenn wir aus unserer altgewohnten Spur gehen sollen. Das, was wir jeden Tag mitschleppen, was wir leben und denken, was wir gewohnt sind und was wir tun, das macht uns aus, das haben wir lieb und davon weichen wir ungern ab. Und vielleicht haben wir tief in unserem Herzen eine Sehnsucht, dass etwas mit uns anders werden sollte. Aber das Wunder der Umkehr schaffen nur wenige.

Kein Wunder, dass sich daraus in unserer Zeit ein ganzer Wirtschaftszweig entwickelt hat: Lebensberatungen, Ernährungsberatungen, Lifestyle-Tipps und Persönlichkeitsentwickler beherrschen die Seminarszene und liefern für gutes Geld Ratschläge, wie man umkehren und ein besserer, glücklicherer Mensch werden könnte. Ein dem christlichen Weltbild nahe stehendes Produkt aus diesem Reigen fasst zusammen, welche Ziele unsere Umkehr haben soll: Da wird versprochen, dass unser Arbeitsplatz neu organisiert wird, dass das Idealgewicht sich ohne Mühe einstellt, dass wir immer genug Geld haben werden, nie mehr überlastet sind, der Zeitdruck abgebaut wird und das Gehirn verblüffend einfach trainiert wird. Wenn Sie eines dieser Probleme bei sich wieder erkennen, unterschreiben Sie unten rechts.

Der verlorene Sohn in dem Gleichnis Jesu hatte es nicht so gut. Er konnte seine Umkehrtipps nicht für ein paar Euro Monat für Monat sauber und ordentlich verpackt aus dem Briefkasten ziehen. Er musste hinunter bis in den Schweinemist. In den Gestankschwaden ist für ihn der Wunsch zur Umkehr wach geworden. Im Grunzkonzert des Borstenviehs ist dieser Gedanke gereift  und von ganz unten ist er umgekehrt und von Gott hinaufgehoben worden bis zum Himmel.

Die Umkehr-Tipps können vielleicht da und dort wirksam sein, aber sie unterscheiden sich von der biblischen Pointe darin, dass wir damit unsere Erlösung selbst betreiben. Und dann brauchen wir diesen Gott nicht mehr, der uns erlöst und vergibt. Das ist der Grund, warum Luther riet: Pecca fortiter! Sündige tapfer! Damit Du durch die Sünde ganz nach unten kommst. Damit Du im Schweinemist erkennst: Hier läuft alles falsch! Damit Du von Herzen umkehrst. Denn dann läufst Du in die offenen Arme von Gott.

Gott, hilf uns, dass wir erkennen, welches Tief DU uns zur Umkehr schickst. Lass uns Deine Aufgabe wahrnehmen und nimm uns auf in DEINE Arme, denn dein  Friede, welcher höher ist denn alle Vernunft, bewahre unsre Herzen und Sinne in Christo, Jesu, Amen.