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Am Sonntag Septuagesimae, mit dem der „Osterfestkreis“ im Kirchenjahr beginnt, hielt Ralf-Andreas Gmelin eine Predigt zur Geschichte von den Arbeitern im Weinberg, die Matthäus erzählt (20, 1-16):
 

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und dem HERRn Jesus Christus.

Ein Geschichte aus dem Matthäusevangelium führt uns in den Weinberg und erzählt eine Geschichte wie dort damals noch Taglöhner ihre Arbeit verrichtet haben, wo heute an den Rebhängen des Rheingau Russen und Polen dasselbe tun:

Mt 20,1-16
Denn das Himmelreich gleicht einem Hausherrn, der früh am Morgen ausging, um Arbeiter für seinen Weinberg einzustellen.Und als er mit den Arbeitern einig wurde über einen Silbergroschen als Tagelohn, sandte er sie in seinen Weinberg. Und er ging aus um die dritte Stunde und sah andere müßig auf dem Markt stehen und sprach zu ihnen: Geht ihr auch hin in den Weinberg; ich will euch geben, was recht ist. Und sie gingen hin. Abermals ging er aus um die sechste und um die neunte Stunde und tat dasselbe. Um die elfte Stunde aber ging er aus und fand andere und sprach zu ihnen: Was steht ihr den ganzen Tag müßig da? Sie sprachen zu ihm: Es hat uns niemand eingestellt. Er sprach zu ihnen: Geht ihr auch hin in den Weinberg. Als es nun Abend wurde, sprach der Herr des Weinbergs zu seinem Verwalter: Ruf die Arbeiter und gib ihnen den Lohn und fang an bei den letzten bis zu den ersten. Da kamen, die um die elfte Stunde eingestellt waren, und jeder empfing seinen Silbergroschen. Als aber die ersten kamen, meinten sie, sie würden mehr empfangen; und auch sie empfingen ein jeder seinen Silbergroschen.Und als sie den empfingen, murrten sie gegen den Hausherrn und sprachen: Diese letzten haben nur eine Stunde gearbeitet, doch du hast sie uns gleichgestellt, die wir des Tages Last und Hitze getragen haben. Er antwortete aber und sagte zu einem von ihnen: Mein Freund, ich tu dir nicht Unrecht. Bist du nicht mit mir einig geworden über einen Silbergroschen? Nimm, was dein ist, und geh! Ich will aber diesem letzten dasselbe geben wie dir. Oder habe ich nicht Macht zu tun, was ich will, mit dem, was mein ist? Siehst du scheel drein, weil ich so gütig bin? So werden die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten sein.

DU, tu meine Lippen auf, dass mein Mund Deinen Ruhm verkündige.

Liebe Gottesdienstgemeinde,

ich möchte mit Ihnen den Weinberg in Israel verlassen. Dort stehen handfeste Kerle herum und streiten, ob es richtig ist, dass jemand, der einen ganzen Tag in der Hitze geochst hat, genau so viel bekommen darf wie einer, der sich eben schnell in der Abendkühle noch ein Stündchen bewegt hat. Ich möchte mit Ihnen in eine nördliche Gegend; vielleicht sogar in Hessen, wo die Brüder Grimm ihre Märchen gesammelt haben. Wenn die Geschichte nicht aus dem fernen hugenottischen Frankreich stammt, hätte sie aus Hanau kommen können - oder auch aus Wiesbaden: Dieses weitgehend unbekannte Märchen aus dem Buch der Brüder Grimm heißt: „Das alte Mütterchen“:

„Es war in einer großen Stadt ein altes Mütterchen, das saß abends allein in seiner Kammer: es dachte so darüber nach, wie es erst den Mann, dann die beiden Kinder, nach und nach alle Verwandte, endlich auch heute noch den letzten Freund verloren hätte und nun ganz allein und verlassen wäre. Da ward es in tiefstem Herzen traurig, und vor allem schwer war ihm der Verlust der beiden Söhne, dass es in seinem Schmerz Gott darüber anklagte. So saß es still und in sich versunken, als es auf einmal zur Frühkirche läuten hörte. Es wunderte sich, dass es die ganze Nacht also in Leid durchwacht hätte, zündete seine Leuchte an und ging zur Kirche. Bei seiner Ankunft war sie schon erhellt, aber nicht, wie gewöhnlich, von Kerzen, sondern von einem dämmernden Licht. Sie war auch schon angefüllt mit Menschen, und alle Plätze waren besetzt, und als das Mütterchen zu seinem gewöhnlichen Sitz kam, war er auch nicht mehr leer, sondern die ganze Bank gedrängt voll. Und wie es die Leute ansah, so waren es lauter verstorbene Verwandten, die saßen da in ihren altmodischen Kleidern, aber mit blassem Angesicht. Sie sprachen auch nicht und sangen nicht, es ging aber ein leises Summen und Wehen durch die Kirche. Da stand eine Muhme auf, trat vor und sprach zu dem Mütterlein: »dort sieh nach dem Altar, da wirst du deine Söhne sehen.« Die Alte blickte hin und sah ihre beiden Kinder, der eine hing am Galgen, der andere war auf das Rad geflochten. Da sprach die Muhme: »siehst du, so wär‘ es ihnen ergangen, wären sie im Leben geblieben, und hätte sie Gott nicht als unschuldige Kinder zu sich genommen.« Die Alte ging zitternd nach Haus und dankte Gott auf den Knien, dass er es besser mit ihr gemacht hätte, als sie hätte begreifen können; und am dritten Tag legt sie sich und starb.“

Ich glaube, wir brauchen nicht lange darüber nachzudenken, warum dieses Märchen nicht so beliebt wie Rotkäppchen oder der Hase und der Igel geworden ist. Die Lektion, die das alte Mütterchen abbekommt, würde jedem von uns auch die Füße weg schlagen. Das Rotkäppchen hat für uns etwas Beruhigendes: das kleine Mädchen ist unvorsichtig und sonst brav, der böse Wolf brav böse und der Jäger ist ein Held der dafür sorgt, dass alle am Schluss vergnügt sind. Kein Wunder, denn jeder kriegt, was ihm zukommt: Die Großmutter wird gerettet, weil sie ja unschuldig ist, Rotkäppchen kommt für ihre Naivität mit dem Schrecken davon, der Wolf, der Bösewicht, muss sterben und der Jäger kriegt als Held den Wolfspelz und kann sich damit ein warmes Wams nähen.

Im Märchen vom Alten Mütterchen ist das anders: Da gilt nicht die Alltagsgerechtigkeit wie bei Rotkäppchen. Im Märchen vom alten Mütterchen hat die Gerechtigkeit zwei Seiten: Die eine, die bei uns gilt und die andere, die auf der anderen Seite gilt:

Die alte Frau hat wirklich Grund zur Klage: Die Einsamkeit hat sie überfallen und peinigt sie mit der Erinnerung an die Menschen, die früher einmal an ihrer Seite waren. Und was unser Verstand zu dem Märchen sagt, ist klar: Ihre Trauer wird von der Geschichte nicht ernst genommen. Es ist unmenschlich, den Kummer dieser alten Frau damit abzutun, dass es ja noch viel schlimmer hätte kommen können.

Unser Verstand hat Recht, wenn er so urteilt. Allerdings - und da bewegt sich unser hessisches Mütterchen in die Richtung des Weinbergs, wo sich die Arbeiter immer noch streiten: Es ist kein Zufall, dass die Wandlung in der nächtlichen Kirche stattfindet. Das Mütterchen wird nicht einfach von einem nächtlichen Gespenst erschreckt, auch wenn die Kirche voller lebendiger Toter ist. Nein, sie wird mit einer anderen Wirklichkeit konfrontiert: Vor dem Angesicht Gottes ist Deine Katastrophe vielleicht ein Segen. Und man könnte hinzufügen: Manches, was für Dich ein Segen ist, stellt sich aus der Perspektive Gottes als Deine Katastrophe heraus.

Diese Zweiteilung der Wirklichkeit in die eine, in der unsere menschliche Leistungsgerechtigkeit gilt, und in eine, wo Gottes Gnade gilt, ist für uns schwer zu ertragen. Der Schüler, der vier Wochen vor den Zeugniskonferenzen in die Klasse kommt und mit lauter Einsern belohnt wird, obwohl er keine Klassenarbeit mitgeschrieben hat: Ich denke, er müsste sich auf eine Menge Hass seitens seiner Mitschüler gefasst machen.
Der Mitarbeiter, der erst vor einem halben Jahr eingestellt worden ist und die Hektik bei der letzten Fusion mit einem Nachbarkonzern nicht mitgekriegt hat - und jetzt befördert wird, an den „alten Kämpfern“ vorbei - er kann sich auf etwas gefasst machen. Und selbst in einer wohl gefüllten Bäckerei gibt’s einen ganzen Strauß böser Blicke, wenn die freundliche alte Dame zur Tür hinein kommt und sofort ein Paket erhält, selbst wenn sich heraus stellt, dass sie es bestellt hat.

Unsere Rotkäppchen-Gerechtigkeit mag solche Ausreißer nicht: „Mitgefangen, mitgehangen“ heißt das Sprichwort dafür: Wenn einer dabei war, wenn die Büttel eine Räuberbande verhaftet, dann gilt er als Räuber und muss an den Galgen. Für Gnade hat die Rotkäppchen-Gerechtigkeit wenig übrig.

Das alte Mütterchen hingegen, das auch lieber die Großmutter beim Rotkäppchen gewesen wäre mit einer lebendigen, fröhlichen Enkelin, es bekommt die Gnade Gottes auf eine fürchterliche Weise vor Augen gehalten. Die nächtliche Kirche zeigt ihr, dass ihr Unglück für uns Erdenmenschen ein fürchterliches Unglück ist - dass es aber vor Gott eine Gnade sein kann.

Ob uns das im Falle des alten Mütterchens behagt oder nicht: Im Weinberg haben die Arbeiter das gleiche Thema. Die durchgeschwitzten Lesehelfer, die den ganzen Tag gebraten wurden und die kühl daneben stehenden Pflücker, die kaum ein lockeres Stündchen geschafft haben, sie werden mit ihrer Rotkäppchen-Gerechtigkeit keine Einigung erzielen. Für sie ist es himmelschreiendes Unrecht, was da vom Himmel kommt: Die einen, weil sie sich betrogen fühlen und die anderen, weil sie heimlich frohlocken: „Ätsch, bätsch, selber schuld - wär’ste nur so schlau wie ich gewesen!“

Die Einsicht in Gottes Gerechtigkeit ist auf beiden Seiten schwer zu bekommen: Vielleicht fällt sie denen leichter, die weniger gearbeitet haben für das gleiche Geld. „Denn das Himmelreich gleicht einem Hausherrn, der früh am Morgen ausging, um Arbeiter für seinen Weinberg einzustellen.“ Das heißt für uns: Mit der Rotkäppchen-Gerechtigkeit kommen wir nicht ins Himmelreich. Mit unserem alltäglichen Rachedurst können wir uns nicht an Gott annähern. Mit „gleichem Lohn für gleiche Arbeit“ kommen wir vielleicht zu Tarifverhandlungen, aber nicht ins Gespräch mit Gott.

Wir stehen am Tag nach der Sicherheitsratssitzung und großen Friedensdemonstrationen an der Schwelle eines merkwürdigen Rachefeldzuges, den die Vereinigten Staaten gegen den Irak führen wollen. Jedes Opfer dieses immer noch wahrscheinlichen Krieges ist ein Opfer zuviel. Und jeder Tote, den dieser Krieg fordern wird, hat ein Recht, dass wir um ihn trauern. Und wir werden hier in der Ringkirche mit Beginn des Krieges jeden Donnerstag um 18.45 Uhr für die Menschen beten, die von diesem Krieg bedroht werden. Wir werden für die Opfer beten, die die Waffen dieses Krieges fordern.

Und wie uns Alltagsgeschichten zeigen, wie sehr wir mit unserer Rotkäppchen-Moral entfernt sind von der Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, so sehr zeigt uns auch dieser krieg, wie wenig die Mächtigen dieser Erde nach Gottes Gerechtigkeit fragen. Wie das alte Mütterchen die entsetzliche Vision als Trost erfährt, so möchte uns die Geschichte von den Arbeitern im Weinberg ermutigen, der Gnade Gottes schier Ungeheures zuzutrauen. Ich möchte nicht darüber spekulieren, ob so unterschiedliche und feindliche Herrscher wie Saddam Hussein und George Bush in den gleichen Himmel kommen - aber wenn es einer schafft, beide im gleichen Himmel zu vereinen, dann ist es die Gnade Gottes und die Gerechtigkeit, die so weit weg ist von dem Happy End: „Da waren alle drei vergnügt: der Jäger zog dem Wolf den Pelz ab und ging damit heim, die Großmutter aß den Kuchen und trank den Wein, den Rotkäppchen gebracht hatte, und erholte sich wieder, Rotkäppchen aber dachte: „du willst dein Lebtag nicht wieder allein vom Wege ab in den Wald laufen, wenn dir’s die Mutter verboten hat.“ Einen solchen Schluss mögen wir lieber - aber das ist nicht das Happy End Gottes: Sein Ende hört auf sein liebevolles und gnädiges Urteil, selbst wenn wir mit unserer irdischen Moral nur eine Katastrophe auf uns zu kommen sehen.

Gott schenke Du uns Vertrauen in Deine Gerechtigkeit und Gnade, denn dein  Friede, welcher höher ist denn alle Vernunft, bewahre unsre Herzen und Sinne in Christo, Jesu, Amen.