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Psalm 119, 105

Am Bibelsonntag, den 26. Januar 2003 - im Gottesdienst, dem die Gemeindeversammlung für die Kirchenvorstandswahl am 27. April folgte, hielt Ralf-Andreas Gmelin ein Plädoyer für die Bibel
 

Liebe Gottesdienstgemeinde,

Was ist die Religion und damit verbunden unsere Bibel wert? Das ist die Leitfrage, um die es nun gehen soll. Wir gehen dieser Frage nach nicht auf einem ordentlichen Weg von der Frühzeit bis heute, sondern in zufälligen Sprüngen.

Dass die biblische Religion nicht automatisch gute Menschen hervorbringt, ist schade. Dies beweist aber eine alte Geschichte.

Eines Tages trifft ein Bauer im Süddeutschen den Lehrer und fragt ihn auf offenem Feld: Ist’s noch Euer Ernst, was Ihr den Kindern gestern beigebracht habt? ‚’Und wer dich schläget auf einen Backen, dem biete den andern auch dar.’“ (Lukas 6, 29) Da antwortet der Lehrer: „Das steht so in der Bibel, da kann ich nichts davon zurücknehmen.“ Da schlägt ihm der Bauer links und rechts eins auf die Ohren, denn er hatte sich schon lange über ihn geärgert. In einiger Entfernung reitet ein Edelmann mit seinem Jäger vorbei. Der Edelmann sagt dem Jäger: „Geh, schau einmal, was die beiden miteinander haben.“ Als der Jäger zu den beiden kommt, gibt der Schulmeister mit seinen erheblichen Kräften dem Bauern die Ohrfeigen zurück, indem er sagt: „Es steht auch geschrieben: Mit welchem Maß ihr messet, wird euch wieder gemessen werden. Ein voll gerüttelt und überflüssig Maß wird man in euren Schoß geben.“ Zu diesem frommen Satz gab er dem Bauern noch ein halbes Dutzend Schläge. Da kommt der Jäger zu seinem Herrn zurück und sagt: „Es ist nichts, gnädiger Herr; sie legen einander nur die Heilige Schrift aus.“

Diese Geschichte, die von Johann Peter Hebel überliefert wurde, zeigt, dass man die Wahrheit der Bibel auch völlig gegen ihren eigentlichen Inhalt auslegen kann. Das wusste auch schon William Shakespeare (1564-1616), der im Kaufmann von Venedig Antonio sagen lässt: „Der Teufel kann sich auf die Schrift berufen.“

Wenn nun - trotz der Ohrfeigen und der Zweckentfremdung durch den Teufel - die Bibel dazu beitragen soll, dass wir „alle unsere Pflichten als göttliche Gebote“ erkennen, wie das der große Königsberger Philosoph Immanuel Kant (1724-1804) (Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft 1) gesagt hat, dann muss sie etwas eindeutiger sein, damit wir etwas von unseren Pflichten als Menschen erfahren und damit wir wissen, was Gott von uns will. Auch ein Psalmwort aus der Bibel behauptet, das Gottes Wort „unseres Fußes Leuchte und ein Licht auf unserem Wege“ sei (Psalm 119, 105). Was ist ein solches Licht wert, wenn es uns nicht auf geraden Wegen weiter führt, sondern wenn es uns als Irrlicht zwischen prügelnden Lehrern und wortverdreherischen Teufeln strauchelt lässt?

Wir wollen uns der Wahrheit der Bibel mit drei Fragen nähern:
Woher kommen die Geschichten der Bibel?
Wer schrieb sie auf und wie wurden sie überliefert?
Hat das, was in der Bibel steht, Autorität? oder: Kann ich für mein Verhältnis zu Gott, zur Wahrheit und zum Leben etwas Verlässliches aus der Bibel heraus lesen?

Die erste Antwort:
„Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“ - und nicht die Bibel. Mit dieser Feststellung beginnt die Bibel. „Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort.“ Damit beginnt das Johannesevangelium und meint damit, dass Gott die Welt mit der Kraft des Wortes geschaffen hat. „Und Gott sprach: Es werde Licht und es ward Licht.“ So schildert das erste Buch Mose den Beginn des Schöpfungsakts.

Klar ist: Gott hat die Bibel nicht auf die Erde gelegt, damit die Menschen darüber stolpern, sondern die Bibel stammt aus dem Nachdenken von Menschen darüber, warum es eine Welt gibt, warum wir Menschen existieren und was wir hier sollen.

Zwei Aussagen halten alle Schriften der Bibel, wie sie heute vorliegt, von vorn bis hinten zusammen:
1. Es gibt einen einzigen Gott und der hat die Welt geschaffen.
2. Dieser Gott geht eine Verbindung zu einem seiner Geschöpfe ein: Zum Menschen.

Unsere Frage hieß: Woher kommen die Geschichten der Bibel? Und wir sehen: Aus der Erfahrung, die Menschen damit machen, dass sie davon überzeugt sind, dass es einen einzigen Gott gibt und er mit ihnen in Verbindung steht.

Die zweite Antwort
Die zweite Frage ist damit schon beinahe beantwortet: „Gottes Wort“ ist die Bibel nicht in dem Sinne, dass Gott sich eine Steintafel nahm und sein Wort eingemeißelt hat, sondern Gottes Wort wird Menschen mitgeteilt als die lebendige Erfahrung, die Menschen mit Gott gemacht haben. Darum ist es kein Widerspruch, dass die Heilige Schrift ursprünglich aus einer Vielzahl unterschiedlichster Schriften bestand, die erst später miteinander verbunden wurden.

Der Vergleich von alt- und neutestamentlichen Textzeugen in hebräischer, griechischer und aramäischer Sprache ergab denn auch, dass die Sorgfalt, mit der die Bibel jahrhundertelang abgeschrieben wurde, sehr groß war.

Wir hatten gefragt: Wer schrieb die Bibel auf und wie wurde sie überliefert? Wir schließen aus dem Gesagten: Viele Geschichten in der Bibel wurden zuerst mündlich weitererzählt. Irgendwann schrieb ein Mensch sie auf. Und er brachte mit seinem Aufschreiben auch etwas von sich selbst ein: Von seinem Staunen, seiner Bewunderung, seinem Glauben, seinem Zweifel, seiner Frömmigkeit und auch - von seinem Menschsein. Die Autoren der Bibel sind nicht wie Gott, perfekt und unfehlbar, sondern echte Menschen: Mit Sünden, Schuld und Irrtümern.

Die dritte Antwort:
Der deutsche Philosoph Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) war von der Bibel überzeugt: „Es enthält diese alte, ehrwürdige Urkunde die tiefsinnigste und erhabenste Weisheit und stellt Resultate auf, zu denen alle Philosophie am Ende doch wieder zurück muss.“ (Naturrecht 1, 32)

In unserer Zeit spielt diese Überzeugung keine große Rolle: Ein Grund für das Desinteresse ist, dass viele der unterschiedlichen Geschichten der Bibel zwar aus dem Leben des Volkes herstammen, aber für viele heute so kompliziert erscheinen, als wären sie allein für Pfarrer oder Doktoren geschrieben worden. Das liegt an den Übersetzungen, die entweder an dem Deutsch des 16. Jahrhunderts orientiert sind (Lutherrevision) oder der Qualität der Vorlage nicht gerecht werden (Gute Nachricht).

Es gibt jedoch in der Weltliteratur kein anderes Beispiel einer Schriftensammlung, die über einen so langen Zeitraum auf so hohem Niveau das Ringen des Menschen um den Grund seines Lebens und Strebens wiederspiegelt. Der große jüdische Philosoph in Berlin, Moses Mendelssohn (1729-1786) hat aufgezählt, worum Menschen ringen sollten. Dabei könnte die Bibel auch heutigern Lesern eine Richtschnur sein: „Nach Wahrheit forschen, Schönheit lieben, Gutes wollen, das Beste tun - das ist die Bestimmung des Menschen.“

Wir suchen nach einer Antwort auf die Frage: Hat das, was in der Bibel steht, Autorität? oder: Kann ich für mein Verhältnis zu Gott, zur Wahrheit und zum Leben etwas Verlässliches aus der Bibel heraus lesen? -  Ja, die Bibel hat als ein lebendiges Zeugnis längst verstorbener Generationen und deren Erfahrungen mit Gott eine unmittelbare Autorität für den heutigen Menschen; -zumal für die, denen es schwer gefallen ist, mit der Generation ihrer Eltern über Religion, Christentum oder Gott ins Gespräch zu kommen.

Müssen Menschen aber überhaupt religiöse Fragen stellen? Oder ist das ein Frühsport für Müßiggänger, denen sonst nichts einfällt, als sich mit solcherlei Fragen zu quälen. Der Frankfurter Vieldenker Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) hat in den „Leiden des jungen Werther“ gesagt: „Ich ehre die Religion, das weißt Du. Ich fühle, daß sie manchem Ermatteten Stab, manchem Verschmachtenden Erquickung ist. Nur - kann sie denn, muß sie denn das einem jeden sein?“ Mit anderen Worten: Muss ich denn wirklich zu den Ermatteten oder Verschmachtenden gehören, denen die Bibel Stärkung bedeutet oder fühle ich mich pudelwohl als einer, der auf diesen Trost gern verzichtet, weil er stark, selbstbestimmt und optimistisch ist?

Wir setzen noch drauf, was der Trierer Revolutionär Karl Marx (1818-1883) dazu meint- dessen berühmtes Wort immer falsch zitiert wird. Er sagt: „Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes.“ Nein, bei Marx ist Religion nicht etwa das Opium, das die bösen Priester, Pfarrer und Tempeldiener dem Volk in die Pfeife stopfen, sondern Religion ist Ausdruck der tatsächlich bedrängten „Kreatur“, die unter einer herz- und hirnlosen Welt leidet. Allerdings: Wie bei Goethe die Religion eine Sache für die persönlich zu kurz Gekommenen ist, ist bei Marx Religion ein Rauschmittel für die, die noch nicht wissen, dass man mit einer netten kleinen Revolution alles zum Guten wenden kann. Wir Nachgeborenen, die wir wissen, dass sich bei einer Revolution die Unterdrückung vom Menschen durch den Menschen erfolgreich in ihr Gegenteil verkehren kann, sind da skeptischer.

Sowohl mit Goethe als auch mit Marx wird Religion - bei aller Wertschätzung - auf das Gleis derer geschoben, die die Welt von unten betrachten: Wir hier unten, die da oben. Und damit bekommt auch die Bibel ihren Anteil weg: Sollen doch die Bibel lesen, die noch meinen, die Welt würde besser, wenn man die Hände faltet. Die kommen gleich nach denen, die an Weihnachtsmann oder Osterhase glauben. Und die christlichen Feste stehen in der Gefahr zum reinen Dekorationsanlass zu verkommen. Der tiefe Ernst, der die Geschichten Jesu durchzieht, verliert in der dekorativen Kulisse des Niedlichen ihre Glaubwürdigkeit. Und wer möchte schon seine ganze Zukunft - um das Wort „Seelenheil“ zu vermeiden - auf etwas setzen, was so läppisch daher kommt.

Die Bibel ist damit allerdings nicht ihrer Würde beraubt. Der amerikanische Abenteurer, Jack London (1876-1916) , der für sein eigenes Leben am Ende keine lebendige Lösung mehr gefunden hatte, philosophierte in besseren Zeiten: „Wenn es dir möglich ist, einer einzigen im Dunkel irrenden Seele ein Licht zu entzünden, einem Betrübten die sonnige Seite des Lebens zu zeigen, einem andern die höhere und edlere Lebensanschauung zu geben, einem Mitmenschen zu helfen, dass er ein besserer Mensch wird, einem Mühsamen und Beladenen die Lasten zu erleichtern, mit auch nur einem kleinen Funken der Liebe die Welt zu bereichern, dann hast du nicht vergebens gelebt.“ Die Sprache des ehemaligen Goldgräbers und Seemanns, der Abenteuer harter Männer in knallharten Situationen schildert, spricht mit Worten der Bibel: „Kommt her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.“

Das Wort der Bibel will Mut machen zum Leben. Bischof Walther Kleiber, der in dieser Woche einen Vortrag hier in der Ringkirche hielt, kannte das schöne Lutherwort, dass die Bibel nicht zum Lesen, sondern zum Leben geschrieben sei. Und das nicht nur für die Ermatteten oder Verschmachtenden. Dass sie das wird, dafür gibt es in unserer Welt eine Vermittlungs- und Hoffnungsagentur namens Kirche. In unseren Kirchen ist das Aufgabe der Pfarrerinnen und Pfarrer, aber sehr viel zahlreicher auch die der Kirchenvorsteherinnen und Kirchenvorsteher und ganz eigentlich auch aller Christinnen und Christen. Nicht nur das Amt der Kirchenvorstände ist allerdings oft von Verwaltung und Alltag bestimmt. Unser gemeinsames Ziel aber muss sein, zum Leben anzustiften und dazu das Buch des Lebens laut werden zu lassen, mittendrin in dieser Stadt.

Mit einem gewichtigen Trost, der ausgerechnet von dem Spötter Heinrich Heine (1797-1856) stammt, komme ich zum Ende:
„Lebt das Wort,
so wird es von Zwergen getragen;
ist das Wort tot,
so können es keine Riesen aufrechterhalten.“
Deutschland I, Zur Geschichte der Religion

Gott, lass Dein Wort leben, damit wir Zwerge es tragen können, zu allen, deren Leben eingemauert ist von den riesenhaften toten Strukturen. - Und gib, dass wir als erste durch Dein Wort zum Leben neu geboren werden, denn dein Friede, welcher höher ist denn alle Vernunft, bewahre unsre Herzen und Sinne in Christo, Jesu, Amen.