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In der Predigt im Gottesdienst am 2. Sonntag nach dem Christfest ging Ralf-Andreas Gmelin von der Geschichte aus, in der ein zwölfjähriger Jesus von seinen Eltern im Tempel aufgefunden wird. (Lk 2,41-52)

Das Lukasevangelium erzählt eine der wenigen Erzählungen aus der Jugendzeit Jesu.

Und die Eltern von Jesus gingen alle Jahre nach Jerusalem zum Passahfest.
42 Und als er zwölf Jahre alt war, gingen sie hinauf nach dem Brauch des Festes.
43 Und als die Tage vorüber waren und sie wieder nach Hause gingen, blieb der Knabe Jesus in Jerusalem, und seine Eltern wußten's nicht.
44 Sie meinten aber, er wäre unter den Gefährten, und kamen eine Tagereise weit und suchten ihn unter den Verwandten und Bekannten.
45 Und da sie ihn nicht fanden, gingen sie wieder nach Jerusalem und suchten ihn.
46 Und es begab sich nach drei Tagen, da fanden sie ihn im Tempel sitzen, mitten unter den Lehrern, wie er ihnen zuhörte und sie fragte.
47 Und alle, die ihm zuhörten, verwunderten sich über seinen Verstand und seine Antworten.
48 Und als sie ihn sahen, entsetzten sie sich. Und seine Mutter sprach zu ihm: Mein Sohn, warum hast du uns das getan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht.
49 Und er sprach zu ihnen: Warum habt ihr mich gesucht? Wißt ihr nicht, daß ich sein muß in dem, was meines Vaters ist?
50 Und sie verstanden das Wort nicht, das er zu ihnen sagte.
51 Und er ging mit ihnen hinab und kam nach Nazareth und war ihnen untertan. Und seine Mutter behielt alle diese Worte in ihrem Herzen.
52 Und Jesus nahm zu an Weisheit, Alter und Gnade bei Gott und den Menschen.

Was hat es mit dieser Geschichte auf sich? Lassen sich die Sorgen der Mutter archäologisch ausgraben? War das alles wirklich so - oder ist das eine Erfindung finsterer Fundamentalisten?

Vielleicht war Jesus ein stinknormaler Junge, der Steine auf streunende Hunde geschmissen hat. Vielleicht durchzieht diesen Menschen von seiner Geburt bis zu seinem gewaltsamen Tod eine Kraft, die auch anderen aufgefallen ist. Meinen Glauben berührt das - persönlich gesagt - nicht.
 
 

Liebe Gottesdienstgemeinde,

wenn Sie im Hinblick auf diese oder andere biblische Geschichten den Spiegel lesen, ist vermutlich alles Lüge. Kein Wort wahr, bloße Ideologie. Wenn Sie die Weihnachtsausgabe des SPIEGEL gelesen haben, dann werden Sie ein Problem mit der Bibel haben; jedenfalls sollen Sie eines bekommen!

Meine erste Regung, als ich von diesem Beitrag hörte, war: Eine Hommage an den ehemaligen und jüngst verstorbenen Herausgeber Rudolf Augstein! Als waschechter Liberaler versuchte er ein Leben lang, die Wahrheit der Bibel zu zersetzen. Aber - und davor beugt sich der Prediger nicht nur vor dem Toten: Nicht ganz ohne Niveau.

Und da steigt der Verdacht hoch, dass der vorliegende Beitrag über die Bibel nicht eine Ehrenerklärung für das Anliegen des Gründers und ehemaligen Herausgeber des Spiegel ist, sondern, dass der Autor, Matthias Schulz, mit der Publizierung so lange hat warten müssen, bis der Alte tot war. Solch einen schlecht recherchierten Beitrag hätte er bei aller Lust an Polemik nicht für gut gehalten. Der Bericht, der sich als neueste Kunde von der israelischen Antike und deren Erforschung ausgibt, hört auf den alten schmierenjournalistischen Grundsatz: Was stimmt, ist nicht neu; und was neu ist, stimmt nicht. Der talentierte Autor blubbert in flüssiger Freude an boshafter Formulierung als allerneueste Nachricht, was seit Jahrzehnten keinen Kundigen mehr in Wallung bringt.

Die etwa 130 Jahre alte Erkenntnis, dass die Bibel aus Bekenntnistexten besteht - und nicht aus Enthüllungsmaterial für mittelmäßig halbgebildete Spiegel-Redakteure - das wird hier als neueste Errungenschaft abgedruckt. Rudolf Augstein mochte diese Enthüllungs-Attitüde auch. Sein Tod ist kein Grund, im Nachhinein seine Halbwahrheiten und seine eklektischen Bildungsgüter zu beschönigen. Einen solch schlecht recherchierten Beitrag, der unter neuesten Gerüchten und uralten Erkenntnissen nicht zu differenzieren weiß, hätte meines Erachtens - zumindest hoffentlich - der Alte nicht durchgehen lassen. Geh erst mal, und lies etwas; hätte er vielleicht gesagt. - Ich wünschte mir jeden Falls, dass der verstorbene Altmeister der journalistischen Bibelkritik dem törichten Geplapper des Lebenden Einhalt geboten hätte.

Nach deren höchst origineller Lesart haben ein paar böswillige Spinner die Texte des Alten Testaments erfunden und die blöden Theologen sind ihnen auf den Leib gegangen. Neu sind solche schicken Gemeinheiten wirklich nicht. Gerade im Dritten Reich hat man sich viel Mühe gegeben, die Schriften des Alten Testaments zu einem ideologischen Müllhaufen der Juden zu machen. Ich glaube daran, dass Rudolf Augstein zu Lebzeiten kein Interesse daran hatte, dass sein Magazin zu einer modernisierten Ausgabe eines flott formulierten Antisemitismus im Stürmer-Stil werden würde.

Wenn ein Halbgebildeter genau weiß, was das Alte Testament über den „Glauben“ der Menschen sagt, dann hat ihm offenbar keiner seiner namhaften Informanten verraten, dass das Alte Testament nur von Gehorsam gegenüber Gott spricht und fast überhaupt nichts über den „Glauben“ an Gott.

Martin Buber und Franz Rosenzweig, die beiden jüdischen Religionskenner, die eine eigene Übersetzung des Alten Testaments vorgelegt haben, haben schon vor über einem halben Jahrhundert ernst genommen, dass diese Texte Kunstwerke sind. Und schon darum gelten. Die antiken Redaktoren, die aus unterschiedlichen Quellen einen lesbaren Text gemacht haben, diese Leute, die laut Spiegel Lügner und Betrüger sein sollen, werden in der Forschung mit einem großen R bezeichnet. R übersetzten Buber und Rosenzweig mit „Rabbinu“, mit „unser Lehrer“. Im Zuge der in den letzten Jahren immer wichtiger gewordenen sogenannten Semiotik, wird ebenfalls der Charakter von biblischen Texten als Kunstwerk betont. Unter solchen Gesichtspunkten ist der Beitrag im Spiegel auf dem Niveau von Kunstkennern, die ein Bild von Picasso für Pfusch halten, weil es ja in Wirklichkeit nie solch kantig zerhackte Gesichter gegeben hat. Genauso wäre es lächerlich, wenn jemand die Grimmschen Märchen verdammen würde, weil sich archäologisch nicht nachweisen lässt, dass Frösche irgendwelche Silberkugeln aus dem Brunnen geangelt haben, um danach mit Prinzessinnen verheiratet zu werden.

Ist die Bibel darum ein Märchenbuch? Nein: Aber das Material, aus dem Kunstwerke geschaffen werden, ist die jeweilige Zeit, in der diese Kunstwerke entstehen: Aus dem Märchen vom Froschkönig lässt sich erkennen, wie viele junge Frauen mit entsetzlich faltig breitmäuligen alten Männern verheiratet wurden, nur weil sie ihnen mit Silber vor der Nase herumfuchteln konnten. Aus den Bekenntnissen der Bibel lässt sich schließen, mit welcher Intensität Menschen bei ihren großen und kleinen Fragen jahrhundertelang mit der Gegenwart Gottes gerechnet haben.

Und dass es im antiken Kanaan nicht nur einen Gott gab, sondern mehrere, ist bereits den Schriften des Alten Testaments zu entnehmen und nun wirklich nicht neu, wie der Spiegel insinuiert; in jedem zweiten Kreuzworträtsel kommt z.B. der kanaanäische Gott El vor, der sich von dem beduinischen Wettergott JHWH unterschied. Es gab auch weibliche Gottheiten, von denen der Spiegel in Bildzeitungsrot kündet: „Völlig nackt, mit einer seltsamen Krone - so wurde Gottes Gemahlin angebetet“. Das ist zwar schon grammatisch falsch, denn in Israel blieben die Beter in der Regel bekleidet und ungekrönt, aber Matthias Schulz hätte die weiblichen Gottheiten auch in den Schriften des Alten Testaments gefunden, - wenn er es etwas aufmerksamer gelesen hätte.

Worauf er zu Recht hinweist, sind Datierungsfragen. Die Chronologie ist ein schwieriges Kapitel und dass alles so schön geordnet zuging, wie es in mancher Geschichte des alten Israel gedruckt steht, ist nicht wahrscheinlich. Schließlich sind auch in den letzten Jahren Zweifel an unserem abendländischen Mittelalter laut geworden, ob nicht zwei Jahrhunderte seit einem fiktiven Karl dem Großen nachträglich erfunden wurden.

Die Chronologie ändert an der Wahrheit von Bekenntnistexten indes nichts. Wir können getrost mit Maria und Josef losziehen, können uns in die Aufregung versetzen, weil der junge Jesus nicht zu finden ist. Wir können staunend im Tempel stehen und den Gesprächen folgen, die der Halbwüchsige mit der Elite seines Volkes führt. Auch der Spiegel mit seiner blasphemischen Lust an der Verächtlichmachung unserer Heiligen Schrift kann uns nicht aus dem Tempel jagen. Ob der zwölfjährige Jesus vor fast zweitausend Jahren wirklich im Tempel war oder ob die Geschichte frei erfunden ist, lässt sich beides nicht beweisen. Durch den Menschen, von dem diese Geschichte erzählt wird, ist die Welt anders geworden, das bleibt stehen. Durch die Anwürfe des Spiegel gegen die jüdische, christliche oder muslimische Religion wird deren Wahrheit nicht unwahrer. Durch die halbverdaute historische Kritik des Spiegel schaut allein die Ratlosigkeit eines Liberalismus, der weltweit seinem eigenen Scheitern zusehen muss.

Ein kindliches Führwahrhalten der biblischen Geschichten kommt der Wahrheit immer noch näher als die Zersetzungsarbeit von Spiegel-Redakteuren. Darum ist es gut, das rotgerahmte Heft zu schließen und dem zwölfjährigen Jungen im Tempel zuzuhören. Wenn Sie die Augen schließen, können Sie ihn sehen, umstanden von würdigen Greisen, Sie sehen seine klugen Augen blitzen und das verwunderte Kopfnicken der alten Gelehrten. Die Innenwelt unseres Glaubens ist durch die Schmähkritik von Journalisten nicht zu zerstören: Die Bibel ist antastbar, ihre Botschaft nicht.

Gott schenke Du uns lebendigen Glauben und Vertrauen auf Dein Wort, denn dein  Friede, welcher höher ist denn alle Vernunft, bewahre unsre Herzen und Sinne in Christo, Jesu, Amen.