Predigt> Predigtarchiv

Am Ewigkeitssonntag, den 24. November 2002 hielt Ralf-Andreas Gmelin im Gottesdienst, den er zusammen mit Dr. Sunny Panitz gestaltete, eine Predigt über eine apokalyptische Vision, die der 2. Petrusbrief mitteilt (3,8-13):
 

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und dem HERRn Jesus Christus.

Der zweite Petrusbrief malt den letzten Tag der Erde aus. Er nimmt ernst, dass für uns auf der Erde ein Tag so lang wie ein Tag ist. Schon ein paar hundert Kilometer höher, im Weltall hat ein Tag eine viel größere Länge. Und bei Gott gilt keinen Tag, keine Stunde und keine Sekunde. Im 2. Petrusbrief heißt es:

Eins aber sei euch nicht verborgen, ihr Lieben, daß ein Tag vor dem Herrn wie tausend Jahre ist und tausend Jahre wie ein Tag. Der Herr verzögert nicht die Verheißung, wie es einige für eine Verzögerung halten; sondern er hat Geduld mit euch und will nicht, daß jemand verloren werde, sondern daß jedermann zur Buße finde. Es wird aber des Herrn Tag kommen wie ein Dieb; dann werden die Himmel zergehen mit großem Krachen; die Elemente aber werden vor Hitze schmelzen, und die Erde und die Werke, die darauf sind, werden ihr Urteil finden. Wenn nun das alles so zergehen wird, wie müßt ihr dann dastehen in heiligem Wandel und frommem Wesen, die ihr das Kommen des Tages Gottes erwartet und erstrebt, an dem die Himmel vom Feuer zergehen und die Elemente vor Hitze zerschmelzen werden. Wir warten aber auf einen neuen Himmel und eine neue Erde nach seiner Verheißung,  in denen Gerechtigkeit wohnt.

Herr, tu meine Lippen auf, dass mein Mund DEINEN Ruhm verkündige.

Liebe Gottesdienstgemeinde,

es gibt in der Weltgeschichte erstaunliche Entdeckungen, vor denen wir bewundernd stehen. Der Buchdruck wird erfunden: Nein, nicht in Mainz oder Eltville zur Lutherzeit, sondern im fernen China bereits im sechsten Jahrhundert. Im neunten Jahrhundert erfinden die Chinesen gleich noch den Handel mit den gedruckten Büchern. Im gleichen Jahrhundert beginnen wir, hier in Europa damit, mehrstimmig zu singen. Stellen Sie sich Ihr Musikprogramm im Radio, im Fernsehen oder auch hier im Gottesdienst vor, wenn immer noch ausschließlich einstimmig gesungen und musiziert würde… Um 1170 wird die Luftpost eingeführt - zwischen Kairo und Bagdad: Noch ohne Boeing, Lockheed und Airbus, aber umweltfreundlich von Brieftauben erledigt. Jetzt, im nächste Woche beginnenden Advent, sollte der Erfindung einer Raffinerie gedacht werden, die hier in Deutschland zum ersten Male 1573 gearbeitet hat: Der Zuckerraffinerie, die ziemlich weißen Rieselzucker herstellte. Wie viele Erfindungen in der Landwirtschaft haben uns ermöglicht, dass auf kleinen Bodenflächen eine riesige Zahl von Menschen ernährt werden kann. Stellvertretend für alle nenne ich Justus von Liebig, der in meiner Heimatstadt Gießen den Kunstdünger erfunden hat - auch wenn es ihm damit nie gelungen ist einen schlechten oberhessischen Acker, der bis heute Liebigshöhe heißt, fruchtbar zu machen… Wie viele Erfindungen und Entdeckungen in der Medizin haben es uns ermöglicht, unsere Lebenszeit auszuschöpfen, ohne dass uns ein Bazillus oder ein Virus vorzeitig zu Fall bringt. Stellvertretend für die zahllosen Pioniere auf diesem Gebiet nenne ich Robert Koch, durch den die Tuberkulose, die Cholera und die Beulenpest heilbar wurden und viel von ihrem einst tödlichen Schrecken verloren.

Der Fortschritt hat unser Leben stabiler und länger gemacht - aber der gleiche Fortschritt hat auch eine neue Qualität in die Gefährdung von menschlichem und tierlichem Leben gebracht: 1934 entdeckt Irène Joliot-Curie in Paris die künstliche Radioaktivität, vier Jahre später, 1938, gelingt Otto Hahn aus Frankfurt die erste Kernspaltung. Sieben Jahre später ist die gefährlichste Frucht dieser Forschung reif: Die Atombombe wird fertig und gelangt sofort in den Einsatz. Am 6. August 1945 wird von den USA über der Stadt Hiroshima die erste Atombombe abgeworfen. Dabei werden 129 558 Personen getötet, verletzt oder vermisst, 176 987 Personen werden obdachlos. Nur drei Tage später werden mit dem gleichen Bombentyp in Nagasaki 66 000 Menschen wurden verletzt oder getötet.

Die Forschung für den Fortschritt und für das Wohl des Menschen hat an diesen drei Tagen eine empfindliche Verletzung davon getragen: Die selbe menschliche Neugier, die geholfen hat, gefährliche Krankheiten zu besiegen, die selbe menschliche Neugier hat ein Vernichtungspotential entwickelt, das dem Menschen die Fähigkeit gibt, seine Erde unbewohnbar zu sprengen. Das erste Werkzeug des Menschen, der Faustkeil, war auch schon die erste Waffe, mit der sich Menschen gegenseitig getötet haben. Und auch die Segnungen des medizinischen Fortschritts, schleppen einen Schatten hinter sich her, der der Zukunft der Menschheit Sorgen bereitet: Der 12. Oktober 1999 wird zum „Tag der 6 Milliarden” ernannt. Erst 1987 war die Fünfmilliardenmarke überschritten worden. Seit 1960 hat sich unsere Weltbevölkerung verdoppelt. Gegenwärtig wächst die Weltbevölkerung um jährlich 80 Millionen Menschen, jede Minute werden 160 Menschen geboren. Während wir diesen Gottesdienst feiern, begrüßt unsere Erde 8000 neue Erdenbürger. Auch wenn 98 Prozent von ihnen in Entwicklungsländern das Licht der Welt erblicken.

Warum teile ich Ihnen diese  alarmierenden Zahlen mit, die uns hilflos machen und die uns nicht helfen ein besserer Mensch zu werden? Diese Zahlen helfen uns auch nicht, mit einem Verlust fertig zu werden, den wir erlitten haben. Denn der zynische Schluss, dass die Vielzahl von Menschen den Wert jedes einzelnen Menschen herabmindert, der verbietet sich - jedenfalls für Christen. Es markiert eine ähnliche Aufgabe, wie die, die vielen von uns in diesem Jahr gestellt wurde: Dankbar zu sein, auch wenn es da in unserem Herzen eine Stelle gibt, wo keine Blumen mehr blühen.

Wer eine Reise in ein Entwicklungsland macht, hat diese Aufgabe täglich vor Augen: Sei dankbar für jedes von diesen unzähligen Kindern, denn es sind Gottes Kinder. Auch wenn Dich angesichts ihrer riesigen Zahl der Schwindel ankommt. Der Patriarch Paulos in Addis Abeba gab uns in Äthiopien einen etwas rätselhaften Auftrag: „Be kindful, seid höflich“ mit meinen Landeskindern. Die Aufgabe wurde uns Reisenden ziemlich schnell deutlich: Höflich bleiben, obwohl überall bettelnde und arme Kinder zu euch kommen, deren Not Euch auf die Nerven geht. Seid höflich, obwohl es Euch stört und der Anblick von Armut und Elend Euch zusetzt oder sogar verletzt. In diesem afrikanischen Land, wo der Fortschritt noch nicht dafür gesorgt hat, dass fast nur alte Menschen sterben, dort nehmen ganze Dörfer Abschied von den Toten. Hunderte pilgern zu den Friedhöfen, wenn ein Mensch stirbt. In diesem Land gehört der Tod zum Alltag und wird öffentlich von Vielen begleitet.

Uns in der westlichen Welt, hat der Fortschritt nicht das ewige Leben gebracht. Aber der Fortschritt hat uns den Tod Jahrzehnte lang fern gehalten. Der Fortschritt hat uns mit der Illusion leben lassen, dass wir an den Tod keinen Gedanken verschwenden müssten. Der Fortschritt hat unsere Erde gewaltig verändert, aber er hat unser Lebensende nur ins Verborgene geschoben. Das ewige Leben der modernen Gesellschaft ist ein schöner Schein, ein Nebel, hinter dessen weißer Wand noch immer das gleiche Lebensende wartet.

Vielleicht befürchten Sie jetzt, dass ich schon längst vergessen habe, dass ich einen Bibeltext aus dem 2. Petrusbrief predigen wollte. Darin hieß es:

Eins aber sei euch nicht verborgen, ihr Lieben, daß ein Tag vor dem Herrn wie tausend Jahre ist und tausend Jahre wie ein Tag. Der Herr verzögert nicht die Verheißung,  wie es einige für eine Verzögerung halten; sondern er hat Geduld mit euch und will nicht, daß jemand verloren werde, sondern daß jedermann zur Buße finde. Es wird aber des Herrn Tag kommen wie ein Dieb; dann werden die Himmel zergehen mit großem Krachen; die Elemente aber werden vor Hitze schmelzen, und die Erde und die Werke, die darauf sind, werden ihr Urteil finden. Wenn nun das alles so zergehen wird, wie müßt ihr dann dastehen in heiligem Wandel und frommem Wesen, die ihr das Kommen des Tages Gottes erwartet und erstrebt, an dem die Himmel vom Feuer zergehen und die Elemente vor Hitze zerschmelzen werden. Wir warten aber auf einen neuen Himmel und eine neue Erde nach seiner Verheißung, in denen Gerechtigkeit wohnt.

Die Fortschrittsgeschichte der Menschheit steht in diesem Bibeltext mit allen ihren Dunkelheiten. Diese Welt und das Leben auf der Erde ist länger, aber nicht sicherer geworden. Die Verheißung, dass es einen neuen Himmel und eine neue Erde geben soll, sie ist uns nicht so wichtig, weil wir gern unter dem verhüllenden Nebel des Fortschritts leben. Viele unter uns haben im zurückliegenden Jahr einen Moment erfahren, als sich dieser Nebel gehoben hat: Immer wenn ein Mensch stirbt, der zu unserem Leben gehört hat, dann sehen wir den Tod ganz deutlich, so wie unsere Vorfahren mit ihm ganz vertraut gelebt haben und so, wie Menschen in vielen Gebieten Afrikas ihn alltäglich erfahren.

Der Fortschritt hat die Möglichkeiten des Menschen vergrößert, schwere Fehler zu machen und schwerste Schuld auf sich zu laden. Er hat nichts daran geändert, dass alles, was lebt auf einen Zustand hin existiert, der das Leben hinter sich hat. Der Nebel des Fortschritts behindert allerdings, dass uns als Christen die Hoffnung erreicht. Die Hoffnung, dass Gott dem ehernen Gesetz des Vergehens nicht unterworfen ist: dass ein Tag vor IHM wie tausend Jahre ist und tausend Jahre wie ein Tag. Ich wünsche uns allen, dass wir an den neuen Himmel und die neue Erde glauben können, in denen keine Vergänglichkeit, kein Tod und keine Ungerechtigkeit mehr herrschen. Gott schenke Du uns den Glauben an DEIN Reich, das zu uns kommt, denn dein Friede, welcher höher ist denn alle Vernunft, bewahre unsre Herzen und Sinne in Christo, Jesu, Amen.