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Am Reformationssonntag, den 3. November 2002 ging es in der Ringkirche um den Reformationstag und um die Einweihung der Ringkirche am 31., Oktober 1894. In der Begrüßung erinnerte Pfarrer Ralf-Andreas Gmelin an das Jahr 1517:

Wir schreiben das Jahr 1517: Portugal besetzt Ceylon. Seine Seefahrer betreten chinesischen Boden bei Kanton. Zugleich dämmert eine neue Weltmacht herauf, die Jahrhunderte lang den Mittelmeerraum bestimmen wird: Selim I. Yavuz, der Strenge (um 1470 bis 1520), erobert als Sultan (1512-1520) zuerst die Herrschaft über das Osmanische Reich und dann die heiligen Stätten des Islam Mekka und Medina. In dem Jahr 1517 stürzt er die Herrschaft der Mamelucken in Ägypten und wird zum Beherrscher am Nil. Der spätere Kaiser Karl der Fünfte erteilt im Jahr 1517 zum ersten Mal ein Privileg des Sklavenhandels von Afrika nach Amerika und setzt damit eine unheilige Geschichte in Gang. -

Und - am 31. Oktober 1517, diesem weltpolitisch durchaus wichtigen Jahr, passiert etwas am Ende der Welt, in einer Stadt, die gerade einmal 3000 Einwohner zählt und damit viel kleiner ist als auch nur das Rheingauviertel Wiesbadens. Martin Luther, ein Mönch und Professor an einer der unbedeutetsten Universitäten Europas, sagt selbst über seinen Wirkungsort Wittenberg, dass direkt dahinter die Wildnis losgeht. Aber von hier schickt er Briefe los, in denen er in 95 provokativen Lehrsätzen etwas fordert, was uns Christen des Jahres 2002 fast völlig fremd ist. Thesen, die unserem Lebensgefühl erheblich widersprechen:
Luther sagt, dass ein Christ jederzeit in Reue Demut und Bußfertigkeit zu leben habe. Und darum sei der Handel mit Ablassbriefen eine Ketzerei gegen Gottes Majestät. In der ersten These schon steht Luthers ganze Sicht zusammengefasst. „Indem unser Herr und Meister sagte: ‚’Tut Buße’, wollte er, dass das ganze Leben der Glaubenden eine Buße sei.“

Auch wenn die Hammerschläge, mit denen diese 95 Thesen an die Schlosskirchentür in Wittenberg genagelt wurden, historisch umstritten sind: Mit dieser Veröffentlichung hat Luther ein Lauffeuer entzündet, das innerhalb weniger Monate ganz Europa entflammt und ein neues Verhältnis von Mensch, Kirche und Gott begründet.

Und das ist der Grund, warum wir hier in der Ringkirche auch noch einen zweiten Anlass haben, den 31. Oktober am heutigen Sonntag zu feiern. Am 31. Oktober des Jahres 1894 wird unsere Kirche in einem feierlichen Akt ihrer Bestimmung übergeben. Unter dem Geläut aller evangelischen Kirchen zieht eine unübersehbare Menschenmenge von der Marktkirche zur Ringkirche. Vorne weg die Schulkinder mit ihren Lehrern, dann ein Militärmusikzug, dann alle am Kirchbau beteiligten Handwerker in festlichem Ornat, denen alle kirchlichen Würdenträger folgen. Als der Zug in die Rheinstraße einbiegt, beginnen die Glocken der Ringkirche zu läuten und begleiten den Zug, bis er hier vor der Tür steht. Vor dem Eingang übergibt der Architekt Johannes Otzen den Schlüssel  dem Generalsuperintendenten Ernst. Ernst gibt das Versprechen, dass dieses Haus zur Ehre Gottes und zur Erbauung der Gemeinde errichtet sei und immer bei der Kirchenbehörde Schutz und Pflege finden werde.

Beides soll heute in diesem Gottesdienst seinen Platz finden:

  1. Was ist aus der Reformation Luthers geworden?
  2. Wofür steht heute unsere Ringkirche mittendrin in unserem Stadtteil?


Und schließlich werden wir in diesem Gottesdienst Abendmahl feiern, dieses Sakrament, das uns noch immer trennt von den Brüdern und Schwestern der römischen Kirche. Vielleicht das noch immer schmerzlichste Zeichen, das zwischen den reformatorischen Kirchen und der römischen Kirche steht. Wir wollen es heute als Hoffnungsmahl feiern, dass Christen auf dieser Erde mehr verbindet als trennt, denn  Gott selbst ist es, der uns mit Brot und Wein in seine Gemeinschaft ruft.
 

In der Predigt hieß es:

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und dem HERRn Jesus Christus.
Ein Geschichte aus dem Matthäusevangelium führt uns auf einen Berg am See Genezareth. Lassen Sie uns in dieser lieblichen Hügellandschaft Platz nehmen und die Geschichte verfolgen, die uns erzählt wird: im 5. Kapitel (Mt 5,1-12):

Als er aber das Volk sah, ging er auf einen Berg und setzte sich; und seine Jünger traten zu ihm.
Und er tat seinen Mund auf,
lehrte sie und sprach:
Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich.
Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden.
Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen.
Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.
Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.
Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen.
Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen.
Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich.
Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen und reden allerlei Übles gegen euch, wenn sie damit lügen.
Seid fröhlich und getrost; es wird euch im Himmel reichlich belohnt werden.
Denn ebenso haben sie verfolgt die Propheten, die vor euch gewesen sind.

HERR, tu meine Lippen auf, dass mein Mund Deinen Ruhm verkündige.
 

Liebe Gottesdienstgemeinde,

Sind Sie selig?
Glückselig?
Oder fragen wir zuerst: Was bedeutet dieses schöne biblische Wort überhaupt?

Makarios, selig: Selig werden die genannt, die keine Sorgen haben: Die Reichen gelten in der griechischen Sprache als „selig“, denn sie müssen sich nicht mehr darum kümmern, das Überleben zu sichern. Die Beschenkten sind selig, denn sie haben jemanden, der sich um sie kümmert. Das ist uns vielleicht in unserer Alltagssprache noch am ehesten vertraut: Der Anblick eines Kindes, das „selig“ ist, wenn es etwas heiß Begehrtes geschenkt bekommen hat. Und auch - im Griechischen wie im Deutschen: Die Makarioi, die „Seligen“ bedeuten auch die, die gestorben sind: Wer das Leben hinter sich hat, muss sich um nichts mehr kümmern. Nicht ist mehr wichtig, was für uns andere unseren Alltag ausmacht.

Sind wird selig? Ich vermute, Sie werden mir eher zustimmen, wenn ich für mich mit Nein antworte: Nein, ich bin nicht selig. Wenn wir die gesamten Seligpreisungen aus der Bergpredigt in einem Satz ausdrücken wollten, müsste der heißen: „Glückselig sind alle, die sich an Gott anlehnen, auf Gott stützen können, die nicht glauben, sie müssten ganz allein auf ihren zwei Beinen stehen, sie könnten mit ihrer eigenen Kraft, ihrer Intelligenz oder Schläue glücklich werden.“

Die geistlich Armen werden sich nicht für Schlauberger halten, die ihres Glückes Schmied sind.
Die Leid Tragenden haben anderes im Sinn, als an ihrem Glück herum zu basteln.
Die Sanftmütigen zeichnen sich nicht durch spitze Ellenbogen und geballte Fäuste aus.
Die im Unrecht Ohnmächtigen können nur darauf hoffen, dass die Gerechtigkeit eines Tages kommen wird.
Reinen Herzens sind die, die nicht bis zu den Ellenbogen in irgendwelchen Affären stecken.
Die Friedfertigen sind fähig auf Ansprüche zu verzichten, weil sie wissen wie kostbar der Frieden ist.
Die Verfolgten und Geschmähten sind die, die nicht zu Verfolgern und Schmähenden geworden sind, sondern die auf sich nehmen, missachtet zu werden, wenn sie auf der Seite von Jesus Christus stehen.

Das eigentümlich Passive, das Erleidende statt Zupackende ist wohl das, was uns als Europäer des 3. Jahrtausends nach Christus von der Grundidee der Seligpreisungen distanziert. Und wir schämen uns unseres Tatendranges nicht. Das unterscheidet uns von der Erkenntnis Luthers, dass unser Leben ganzheitlich eine Buße sein soll: Nein, wir wollen unser Leben nicht hinnehmen, sondern eigenständig führen. Und davon wollen wir nicht umkehren oder Reue zeigen.

Vor vierzehn Tagen stand ich am Rande eines Dorfes im äthiopischen Hochland. Es wurde langsam Abend und die nahen Berge wurden immer blauer. Neben einigen der dort üblichen runden Hütten sah ich Bauern beim Dreschen. Wie in biblischer Zeit warfen Sie das Getreide mit Astgabeln hoch in die Luft und der Wind trieb die Halme vor sich hin, während die winzigen aber schweren Getreidekörner auf den zuvor planierten Platz fielen. Diese Menschen, die unsere Zeitgenossen sind, leben in einer großen Abhängigkeit von dem, was äußere Umstände ihnen zufügen. 10 Millionen Äthiopier sind auch in diesem Jahr vom Hunger bedroht. Weil ihre Landwirtschaft eine Form hat, die völlig von Faktoren abhängt, die Menschen nicht beeinflussen können. Zwei Dürreperioden und es gibt kaum noch eine Hoffnung, aus eigener Kraft weiter zu leben.

Der Blick auf das äthiopische Dorf ist für mich auch ein Blick in eine christliche Glaubenswelt, die jeden Tag weiß, dass alles Leben allein von Gott abhängt. Wenn Gott zu wenig Regen schickt, muss ich sterben. Die tiefe Glaubensüberzeugung dieser Menschen ist fest verbunden mit ihrem ganzen Leben und seiner Gefährdung. Und umgekehrt: Unser von Menschen reguliertes Leben, unsere automatisierte gesellschaftliche Vorratshaltung, unsere perfekte Logistik versetzt uns in die Illusion, als hätten wir Menschen alles im Griff. Wer stets wohl gefüllte Supermarktregale vor sich hat, der braucht zum Leben Geld - aber keinen Gott.

Die Menschen auf dem Land Äthiopiens sind noch wie die Menschen der Zeit Jesu vollkommen abhängig vom Brot. Es gibt nur wenig Kartoffeln, die in unserer Kultur zum Ende regelmäßiger Hungersnöte geführt haben und es gibt auch keinen weltumspannenden Handel, der zu jeder Zeit alles ins Land bringt. In der Bibel spricht die Offenbarung des Johannes davon, was passiert, wenn durch eine schlechte Ernte das Brot teuer wird.  Das Lamm öffnet, das Dritte Siegel. „Und ich sah auf, und siehe, ein schwarzes Pferd. Und der auf ihm saß, hatte einen Waagebalken in der Hand. Und ich hörte etwas wie eine Stimme inmitten der vier Lebewesen, die sagte: Ein Maß Weizen um einen Denar und drei Maß Gerste um einen Denar.“ Der Preis für Weizen und Gerste ist in diesem apokalyptischen Bild etwa acht- bis zwölf Mal so hoch, wie der normale Preis. Wenn der Brotpreis um das Zehnfache steigt, dann ist sie unübersehbar da: Die Hungersnot.

Wenn Jesus Christus davon spricht, dass er das „Brot des Lebens“ ist, dann betont er damit, dass er lebensnotwendig und unersetzlich ist. Es ist auch kein Zufall, dass Jesus in seinen Gleichnissen immer wieder Bilder benutzt, die der Welt des Brotes entstammen: Der „Sämann“,  „Unkraut unter dem Weizen“, das Bild vom „Sauerteig“ und vom „reichen Kronbauern“. An anderer Stelle ertönt in der Bibel der Gesang der Männer aus dem Feuerofen - ohne Zweifel ist damit ein Backofen gemeint.

In der antiken Familie beginnt der Tag der Frauen damit, dass sie Getreide mahlen, das einen Tag lang mit Sauerteig vermischt liegen wird, bis es am darauf folgenden Tag gebacken wird. Das „tägliche Brot“ strukturiert den häuslichen Alltag und ist dem Menschen der Antike kostbar. Kein Wunder, dass das Tischgebet ein selbstverständlicher Dank war, dass Gott heute dies Brot geschenkt hat.

In der heutigen Familie ist die Mahlzeit das Produkt aus verdientem Geld, einem Auswahlprozess, was in welchem Laden gekauft wurde und schließlich mit welcher Geschicklichkeit und Kunstfertigkeit es zubereitet wurde. All dies sind typisch menschliche Fertigkeiten. Dass auch hinter unserem modernen Essen und Trinken ein Geschenk Gottes steckt, das ist heutigen Menschen nicht selbstverständlich. Unser Glaube entspringt weitaus weniger einem sich direkt mitteilenden Lebensgefühl - wie es Menschen empfinden, deren Alltag das Brot gleichsam direkt von Gott empfängt.

Trotz der Armut und der Not, die eine solch frühe Form der Landwirtschaft mit sich bringt, habe ich diese Verbundenheit von Leben und Glauben aber auch als etwas empfunden, worum wir diese Menschen beneiden können. Martin Luther hat dieses Lebensgefühl noch gekannt: Seine Frau Katharina hat zwei Bauernhöfe bewirtschaftet und die Unterschiede im Ernteerfolg waren in ihrem großen Haushalt auch sehr spürbar. In seiner Erklärung zur vierten Vaterunserbitte sagt Luther, dass Menschen auch ohne Gebet Brot bekommen: Aber wir bitten Gott in diesem Gebet, dass er’s uns erkennen lasse und wir mit Danksagung empfangen unser tägliches Brot.“

Das ist die Botschaft, dass wir erkennen, dass alles wirklich Wichtige in unserem Leben ein Geschenk von Gott ist und dass wir uns einüben sollen, dafür danke zu sagen. Aus diesem Grund steht seit 1894 die Ringkirche in diesem Stadtteil deren Glocken täglich zwei Mal dazu aufrufen, zu danken für alles, was uns geschenkt wird. Ich wünsche uns, dass diese Botschaft in unseren Herzen auf fruchtbaren Boden fällt und vielfältig Frucht bringt. Gott schenke Du uns solches Gedeihen, denn dein  Friede, welcher höher ist denn alle Vernunft, bewahre unsre Herzen und Sinne in Christo, Jesu, Amen.