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Am 7. Sonntag nach Trinitatis geht Ralf-Andreas Gmelin in der Predigt aus von der Geschichte im 2. Buch Mose nach dem Auszug aus Ägypten, als das Volk gegen seine Leitung murrte:

Und es murrte die ganze Gemeinde der Israeliten wider Mose und Aaron in der Wüste.
Und sie sprachen:
Wollte Gott, wir wären in Ägypten gestorben
durch des HERRN Hand,
als wir bei den Fleischtöpfen saßen und hatten Brot die Fülle zu essen.
Denn ihr habt uns dazu herausgeführt in diese Wüste, daß ihr diese ganze Gemeinde an Hunger sterben laßt.
Da sprach der HERR zu Mose: Siehe, ich will euch Brot vom Himmel regnen lassen, und das Volk soll hinausgehen und täglich sammeln, was es für den Tag bedarf, daß ich's  prüfe, ob es in meinem Gesetz wandle oder nicht...
Und Mose sprach zu Aaron:
Sage der ganzen Gemeinde der Israeliten:
Kommt herbei vor den HERRN,
denn er hat euer Murren gehört.
Und als Aaron noch redete zu der ganzen Gemeinde der Israeliten, wandten sie sich zur Wüste hin, und siehe, die Herrlichkeit des HERRN erschien in der Wolke.
Und der HERR sprach zu Mose:
Ich habe das Murren der Israeliten gehört. Sage ihnen: Gegen Abend sollt ihr Fleisch zu essen haben
und am Morgen von Brot satt werden
und sollt innewerden, daß ich, der HERR, euer Gott bin.
Und am Abend kamen Wachteln herauf
und bedeckten das Lager.
Und am Morgen lag Tau rings um das Lager.
Und als der Tau weg war,
siehe, da lag's in der Wüste rund und klein
wie Reif auf der Erde.
Und als es die Israeliten sahen,
sprachen sie untereinander: Man hu?
Denn sie wußten nicht, was es war.
Mose aber sprach zu ihnen:
Es ist das Brot,
das euch der HERR zu essen gegeben hat.
Das ist's aber, was der HERR geboten hat:
Ein jeder sammle, soviel er zum Essen braucht,
einen Krug voll für jeden
nach der Zahl der Leute in seinem Zelte.
Und die Israeliten taten's und sammelten,
einer viel, der andere wenig.
Aber als man's nachmaß, hatte der nicht darüber,
der viel gesammelt hatte, und der nicht darunter,
der wenig gesammelt hatte. Jeder hatte gesammelt, soviel er zum Essen brauchte.
HERR, tu meine Lippen auf, dass mein Mund Deinen Ruhm verkündige.
(Exodus 16, aus 2-18)
 
 

Liebe Gottesdienstgemeinde,

am Anfang stand das Murren. Das Murren, für das das  immer wieder zitierten Motto des Bibellesers Bert Brecht stehen könnte: "Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral." Das Murren, aus dem in unseren Tagen die Hälfte aller Nachrichten besteht: In China fällt ein Sack Reis um und in Deutschland wird der Bundeskanzler gefragt, ob er bei seinem letzten Staatsbesuch 1991 hinreichend die Stabilität der Reissäcke zur Sprache gebracht habe. Das Murren, das zu den liebsten Beschäftigungen der Deutschen im Ausland gehört: Man fliegt Tausende von Kilometern weg, um darüber zu meckern, dass das Bier zu dünn, die Wasserhähne nicht dicht, die Glühbirnen zu dunkel und die Abgase zu rußig seien. Das Murren, das in unserer Zeit jede Krankheit zum Verbrechen der anderen macht: Lebensmittel werden von allen anderen willkürlich vergiftet, die Luft wird von den anderen verpestet - von meinem Auspuff ja schließlich nicht - und an meinem Übergewicht haben die leeren Kohlehydrate schuld und nicht etwa meine Fressgier. Und wenn dann auch die ärztliche Kunst keine passende Reparatur weiß, dann ist die Sache klar: Die Ärzte haben nur das Geld im Blick und taugen eben nichts! - Hauptsache: Ich bin an meinem Zustand unschuldig. Hauptsache ich habe jemanden, über dessen Bosheit, Unfähigkeit oder Schwäche ich murren kann.

Die Kinder Israel haben angesichts des Todes und der Existenzangst draußen in der Wüste gemurrt. Wir murren auf dem Gipfel einer zentralgeheizten Zivilisation, die uns eine weltgeschichtlich niemals erreichte Sicherheit gewährt. Der moderne Mensch: Einer, der zum Murren keinerlei Gefahr mehr braucht.

Die Kinder Israel werden schuldig: Sie fangen an mehr Manna zu sammeln, als sie brauchen und empfangen für solche verbotene Vorratsbildung ihre Strafe. „Etliche ließen davon übrig bis zum nächsten Morgen; da wurde es voller Würmer und stinkend.” Die Menschen heute werden mit ihrem Gemurre so schuldig, dass niemand mehr die Schuld beschreiben oder auflisten kann: Die BSE-Krise hat Tausenden von Rindern einen sinnlosen und würdelosen Tod gebracht und es haben mehr britische Bauern wegen der BSE-Krise Selbstmord begangen, als diese Krankheit insgesamt an Opfern gefordert hat.

Ich wünschte, ich könnte die Geschichte vom Manna mit der naiven Parteilichkeit hören, mit der ich sie als Kind gehört habe: Die Israeliten werden von Gott befreit und gerettet und vor den ägyptischen Peitschenhieben in Sicherheit gebracht - und sie danken nicht, sondern murren undankbar. Damals konnte ich mich auf der Seite Gottes fühlen. Heute denke ich: Was sind die Kinder Israel für Anfänger. Ihr bisschen Gemurre angesichts der ungeheuren Unsicherheit! Und was sind wir für Perfektionisten: Wir murren auf allen Kanälen, in allen Medien und Lebenslagen. Murren. Auch dann, wenn es keine begreifbare Ursache gibt.

Natürlich gibt es Unterschiede. Die Israeliten folgen in der Wüste dem, was seine Priester - Mose und Aaron ihnen als Gottes Willen verkünden. Wir folgen keinen Priestern, keinem göttlichen Willen, sondern dem, was uns gerade richtig erscheint. Und die erste Ursache unseres Befindens ist das Gemurre, das die Mediengesellschaft in bunten Farben, mit selbstgerechter Moderation und wieherndem Spottgelächter auf die Mattscheiben zaubert. Es gehört viel Selbstbewusstsein dazu, eine persönliche Meinung zu haben, die gegen die Schlagzeilen der Murrindustrie verstößt, sei es Bild, Spiegel, RTL oder ARD.

Es gibt eine moralische Frage, die ein immer hemmungsloserer Kapitalismus von Feuerland bis Nowosibirsk und von Neuseeland bis in die Bretagne jedem einzelnen aufgibt. Diese globale Frage heißt:
Was habe ich denn davon?  Was habe ich davon, wenn ich braver, netter, liebenswürdiger oder freundlicher werde? Die andern halten mich dann für naiv, feige, verlegen oder für einen Schwächling. Was habe ich denn davon? Ehrlichkeit ist Dummheit, Offenheit ist unvorsichtig, Mitleid ist Schwäche. Also bin ich kein „Gutmensch”. Was hätte ich denn davon?
Seltsame Zeiten, in denen das Wort „Gutmensch” eine maximal lästige Nervensäge bezeichnet. Selbst eine „miese Type” ist dem Gutmenschen noch vorzuziehen, sie könnte wenigstens wirtschaftlich erfolgreich sein, wozu ja der Gutmensch auch nichts taugt.

Die Leute in der Wüste hatten's leichter: Was hab ich von Dir Gott? murren sie. Und es regnet Manna. Wenn wir fragen: „Was hab ich von Dir, Gott?”, müssen wir weit ausholen: Das Brot kommt nicht von Gott, sondern wird aus Getreide gebacken, das Bauern aus Gewinnstreben anbauen. Wachteln gibt's nur, wenn sie bei Aldi im Sonderangebot zu haben sind. Die Dauer meines Lebens hängt von der Einsatzfreude meiner Ärzte ab und ob die Wissenschaft noch rechtzeitig etwas erfindet, mit dem ich meine Gesundheitsrisiken in den Griff kriege. Und am Ende schimpfen meine Angehörigen nicht auf Gott, der mich zu sich gerufen hat, sondern auf die Stadt Wiesbaden, weil sie bei der Bestattung Preistreiberei betreibt.

Was hab ich von Dir, Gott? Was bringst Du? Versorgst Du meine Zylinder mit Sprit? Bringst Du mich durch den Winter oder sind das die Gewaltigen der OPEC? Bist Du wirklich mehr als eine mythische Figur aus der Zeit als die Menschheit noch das Laufen lernte? Ist heute nicht der Präsident der Vereinigten Staaten der Gott über Leben und Tod auf der Erde? Dieser Präsident, der seinen Soldaten die Lizenz zum straf- und konsequenzenlosen Töten ausstellen will?

Gott hat es schwer gegen dieses Murren der Moderne.Gott hat es schwer, wenn er mit den platten Zwecken und Interessen konfrontiert wird: Was habe ich davon, wenn es Dich gibt, Gott? Aber ganz neu sind die Allmachtsvorstellungen der Menschen nicht: Die Ideologie der Zwecke und die Moral der Kapitalvermehrung fragt niemals danach, woher sie kommt, wer sie geschaffen hat. Der Mensch der Zwecke braucht keine Schöpfung und keinen Schöpfer. Seine einzige Frage geht auf die Erfüllung des Nutzens: Was habe ich davon? Aber ganz neu sind auch die Allmachtsvorstellungen der Mächtigen nicht: Die ersten Christen waren mit dem römischen Kaiserreich konfrontiert, mit „Präsidenten” die sich „Kaiser und Gott” anreden ließen. Der Stern dieser Gottheiten ist untergegangen. Und der amerikanische Gott der Gegenwart hat auch schon Zeichen der Vergänglichkeit im Hinblick auf den Verzehr von Brezeln gezeigt.

Das Buch eines australischen Ehepaars, zweier Kommunikationstrainer, Allan und Barbara Pease, macht derzeit auf dem Buchmarkt Furore: Die Nummer eins der „amazon-Bestseller” dieser Woche heißt, „Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken.” Das Schöne an diesem Buch ist, dass die Alltagserlebnisse, die Männer und Frauen haben, mit den Ergebnissen der modernen Hirnforschung erklärt werden. Männer sind noch immer steinzeitliche Jäger, sie blicken weit und gezielt und taugen Abends nur noch dazu, schweigend in die Flammen des Feuers zu starren, wenn ihre Frauen mit ihnen Lebensfragen bearbeiten wollen. Frauen haben ihre Augen überall gleichzeitig, weil sie ihre Kinder vor wilden Tieren und Umweltgefahren schützen mussten; so sind sie noch heute. Das Buch erklärt überzeugend manchen Strauß, den Männer und Frauen miteinander ausfechten. Aber - und da ist es typisch für die Ideologien ohne Gott - es hat keine Antwort darauf, wie menschliches Leben sein sollte. Was nützt mir das folgende Wissen?

„Sobald die neue Zelle mit ihre stärkeren Genen geboren wurde, mussten die Eltern das Zeitliche segnen, und zwar aus zwei Gründen: Erstens war die neue Zelle besser als die Elternzellen und die Elternzellen damit überflüssig. Zweitens mussten die Eltern eliminiert werden, damit sie nicht auf die Idee kamen, sich mit der neuen Zelle zu vereinen und das neue, bessere Erbgut wieder zu „verwässern”. Tod war gleichbedeutend mit dem Überleben des neuen  und stärkeren Gens, das sich dann wiederum mit den Genen von anderen Überlebenden verbinden konnte.”

Diese unfreundliche Geschichte aus der Urzeit der Welt ist vielleicht für die damaligen Tiere plausibel. Aber darf eine solche Geschichte für den Menschen eine Bedeutung haben? Die schlichte biologische Argumentation birgt große Gefahren: Gerade wir Deutschen haben von 1933 bis 1945 kennen lernen müssen, wie die Folgen aussehen, wenn aus den Erkenntnissen der Biologie Politik und Moral abgeleitet wird. Beim Menschen wird aus biologischer Erkenntnis rasch tyrannische Lebensverachtung! Ein freundliches liberales Buch, das mit heiteren Geschichten von Mann und Frau aufwartet, befindet sich an dieser Stelle in direkter Nachbarschaft nationalsozialistischer Ideologien.

Menschliches Handeln muss die Stumpfheit biologischer Auslese gerade durchbrechen und braucht darum einen Maßstab der nicht abgeleitet wird vom „Fressen und Gefressen werden”. Und einen solchen Maßstab kann weder die Biologie noch ein zum Selbstzweck erstarrtes Murren in den Medien stellen.
Vorhin haben wir ein Gedicht von Werner Söllner gehört:

Das Haus der Welt ist schlecht gebaut,
ich sitze krumm und schief darin.
Ach, Sprache, meine stumme Braut,
sag mir, wo ich zuhause bin.

Hier steht ein Bett, ein Stuhl, ein Tisch,
da ist noch Brot und dort ist Wein.
Was bleibt? Versteinertes Gemisch
aus Sätzen vom Lebendigsein.

Der Sinn der Wörter ist die Haut,
die langsam auseinanderfällt.
Ach, Sprache, meine stumme Braut -
das Aug weint, was die Silbe hält.

Das Heil Gottes, das die Welt vor dem Auseinanderfallen rettet, die Heilung, die unsere murrende Welt dringend braucht, sie werden in Welt wirksam, wenn Menschen daran glauben. Die heilmachende Kraft Gottes bleibt unwirksam, wenn die Christenheit sie nicht erhofft, verkündigt und in ihrer Gewissheit lebt. Durch den Glauben kann diese Kraft Brot und Wein verwandeln, dass sie zum Zeichen des gelingenden Lebendigseins werden. Ich wünsche uns allen, dass wir zu Trägern der heilenden Energie Gottes werden.

Der Friede Gottes, welcher höher ist denn alle Vernunft, bewahre unsre Herzen und Sinne in Christo, Jesu, Amen.