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Am Palmsonntag 2002 hielt Ralf-Andreas Gmelin eine Predigt zum 317. Geburtstag von Johann Sebastian Bach, die auf  die Aussage von 1.Samuel 10,6 zielt:
 

Liebe Gottesdienstgemeinde,

die noch nicht geschriebene Chronik der Ringkirche und ihrer Gemeinde verzeichnet im Jahr 1936 einen Abschied. Der langjährige Chorleiter des Kirchenchores, Heinrich Würges tritt von seinem Amt auf eigenen Wunsch zurück, um in einer neuen Zeit Jüngeren Platz zu machen. Wenige Monate zuvor war der Ringkirchen-Chor als selbständiger Verein aufgelöst worden. Er wurde von den nationalsozialistisch beeinflussten Kirchenbehörden unter das Kommando der gleichgeschalteten Gemeinde eingegliedert - nicht auf eigenen Wunsch. Eine kirchenmusikalische Epoche ist in diesem Jahr zuende gegangen: Mit Heinrich Würges hört die Ringkirche auf, ein Zentrum der Nassauer Singbewegung zu sein, die auch mit dem Namen Johann Sebastian Bachs verbunden ist. Würges war ein bedeutender Musiker in dem kleinen Ländchen Nassau. Als Chefdirigent des Verbandes aller Nassauischen Kirchenchöre ist er einer der bekanntesten Männer der damaligen nassauischen Landeskirche. Doch mit seinem Rücktritt gerät sein Name in dunkles Vergessen. In den Annalen des damaligen Chores steht zu lesen:

"Am Nachmittag des Ersten Advents im Jahr 1936 versammelte sich der Chor mit seinen Angehörigen und Gästen im adventlich geschmückten Gemeindesaal an der Ringkirche. Nach einem Chorlied ... begrüßte der Vorsitzende, Pfarrer Wilhelm Hahn, die Erschienenen und wandte sich in Worten des innigsten Dankes und der Anerkennung an den scheidenden Chorleiter Heinrich Würges und überreichte ihm im Auftrag des Chores die Büste des größten, protestantischen Kirchenmusikers Johann Sebastian Bach und in persönlicher Freundschaft und Verehrung die 'Kleine Chronik der Anna Magdalena Bach' als Geschenk."

Was Heinrich Würges 1936 als Abschiedsgeschenk erhält, gibt es in Deutschland gerade einmal sechs Jahre: Die englische Musikschriftstellerin Esther Hallam Meynell hatte anonym ein Büchlein geschrieben, das aussah, wie eine authentische Lebensbeschreibung der Ehefrau Johann Sebstian Bachs. Eine englische Zeitung fiel auch darauf herein und zählte das Buch zu den echten Lebenszeugnissen Bachs. Die "Kleine Chronik der Anna Magdalena Bach" ist eine freundliche und erfolgreiche Fälschung.
Es wurde damals das Gerücht verstreut, die echte Chronik sei in der Bibliothek eines englischen Adelshauses aufgefunden worden. Die Wahrheit aber ist, dass diese Geschichte im Kopf einer treuen Bach-Anhängerin geboren wurde, die alles getan hat, um ihrem Idol ein tüchtiges Denkmal zu setzen.

Wer heute - vor allem als Frau - diese Chronik liest, wird mit dem romantischen Bild vertraut, wie sich eine Engländerin die Ehe mit einem deutschen lutherischen Genie des 18. Jahrhunderts vorstellt: Anna-Magdalena sitzt brav zu Füssen ihres Mannes und himmelt ihn rückhaltlos an. Lassen wir das etwas zu schöne Bild hinter uns und hören wir auf einen kurzen Abschnitt aus dieser Kleinen Chronik der Esther Meynell aus England:

"Wer Sebastian kennenlernte, wurde unweigerlich in dieser wundersamen Weise von ihm verändert, und das Anhören seiner Musik ließ jeden eifrig streben, gut zu werden. Ich habe schon gesagt, dass Sebastian nicht sehr erpicht auf Lob war und sich nur mäßig darüber freute. Doch einmal, glaube ich, wurde er im Herzen froh, als nach der Aufführung einer Kantate ein Student zu ihm kam und ihm sagte: Bei dieser Musik fühle ich, dass ich wenigstens eine Woche lang, nachdem ich sie gehört habe, nicht das geringste Üble tun könnte."

Ich denke, dass dieser kurze Abschnitt unsere Sehnsucht beschreibt, mit der wir ein Konzert besuchen - und vielleicht auch diesen Gottesdienst. Die Sehnsucht, dass sich irgendetwas ereignet, was uns verwandelt, was uns besser werden lässt und was uns zum Guten stärkt. Zum Geheimnis der Bach'schen Musik gehört, dass er sie in den Dienst Gottes gestellt hat und dass wir ihm abnehmen, dass es nicht bloß ein Lippenbekenntnis war, wenn er alles allein zum Lobe Gottes komponiert hat. Auch wenn Konzerte und Gottesdienste die Sehnsucht nach unserer Verwandlung nicht immer erfüllen: Es ist gut, dass diese Sehnsucht in uns brennt, denn sie lässt uns nach Gott fragen und sie lässt uns jetzt auch zuhören, wenn jetzt Elisabeth Schmitz die Arie für Flöte, Alt und Cembalo aus der H-Moll-Messe singt: "Agnus Dei qui tollis peccata mundi, miserere nobis." ("Lamm Gottes, der du trägst die Schuld der Welt, erbarm dich unser")

Auf dem Weg, was Menschen mit der Musik des Johann Sebastian Bach anfangen, waren wir eben noch um das Jahr 1930. Jean-Luc André rühmt in den sechziger Jahren die künstlerische Existenz von Johann Sebastian: "In seinem Genie war er kein Junggesellentyp, wie so viele andere, die sich mit unbefriedigten Wünschen, mangelnder Anpassungsfähigkeit, narzißtischem Ersatz, seelischer Unterentwicklung und Krisen der Einsamkeit herumschlagen mussten." Zu Lebzeiten blieb Bach ein Vater und Ehemann - und denoch ist seine Ehefrau als Almosenempfängerin gestorben.

Johann Sebastian Bach ist am 28. Juli 1750 gestorben. Der Palmsonntag erinnert an ein Geschehen, das fast 2000 Jahre her ist. Feiern wir diesen Gottesdienst auf einer Insel der Seligen? Wer sind wir heute, was ist das Charakteristische an unserer Zeit, in der wir alte Geschichten hören oder alte Harmonien musizieren?

Was würde Jesus oder Johann Sebastian Bach zum heutigen verkaufsoffenen Sonntag sagen: Der letzte Passionssonntag wird dem Stadtmarketing geopfert. Ein unmusikalisches Opfer; mit hohl klingenden Phrasen des Wirtschafts- und Marketingverbandes garniert. Das Leiden Jesu Christi berührt heute eben nicht mehr: Das Leiden des Einzelhandels und seiner Bilanzen ist eben wichtiger. Die christliche Heilsgeschichte ist ganz weit weg von den Menschen; ihr Alltag klappt auch ohne Gott, Kreuz und Gnade. Und Hohn und Spott ist das Alltagsgeschäft unserer Medienkultur, sie beflügelt nicht zu kühnen Kompositionen wie den Meister der musikalischen Passionen, - sondern allenfalls traurig den Fernseher auszuschalten. Der Mensch der Bachzeit richtete seine ganze Woche nach Gottes Heilsplan aus: Am Freitag verzichtete man auf Fleisch, um an den gemarterten Körper Jesu zu denken und am Sonntag aß man nach Möglichkeit Fleisch, um an die leibliche Auferstehung Jesu zu erinnern. Das ganze Jahr bewegte sich im Gleichklang mit der Lebensgeschichte Jesu und konnte von Künstlern wie Johann Sebastian Bach einfach zum Klingen gebracht werden.

So klingt es heute in unserer Seele nicht mehr. In unserer Seele findet die Bach'sche Musik ihren Widerhall nicht in unserer gläubigen Überzeugung, sondern in unserer Sehnsucht, dass da etwas ist, das die Langeweile einer entzauberten Gegenwart übersteigt. Wir hören Bach heute mit anderen Ohren, denen zum Teil die Gute-Laune-Musik von FFH den ganzen Tag in den Trommelfellen liegt. Aber vor allem hören wir Bach mit anderen Seelen: Auf unseren Seelen brennt der Kummer um eine Heilsgeschichte, die immer wieder neu in Krieg und Unrecht verfällt. Auf unseren Seelen liegt die Erfahrung, dass unsere Zeit, in der es uns so wohl geht, weil wir nicht sieben von dreizehn Kindern zu Grabe tragen müssen, dazu führt, dass manche Menschen ihr Leben gleichgültig, böse und verbittert wegwerfen - ob unter Beobachtung einer Fernsehkamera oder einsam zu Hause. Mit diesem Gottesdienst verbinde ich die Hoffnung, dass mit ihm unsere Sehnsucht gestärkt wird und dass sie uns zeigt, wie kostbar dieses Leben ist, das wir geschenkt bekommen haben. Worte, Melodien, Klänge und die kunstvolle Tonarchitektur der Musik Johann Sebastian Bachs, sie alle können zum Ausgangspunkt werden davon, dass Gott mit seinem Geist für uns spürbar wird. Damit erfahrbar wird, was im 1. Buch Samuel der Bibel steht:
Und der Geist des HERRN wird über dich kommen, daß du mit ihnen in Verzückung gerätst; da wirst du umgewandelt und ein anderer Mensch werden. (1.Sam 10,6)

Ja, komm über uns, Du Geist Gottes , denn Dein Friede, der höher ist denn alle Vernunft, er bewahre unsere Herzen und Sinne in Christo Jesu, Amen.