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Aus dem Jesajabuch im 49. Kapitel, 13-16 stammt der Predigttext, vom dem die Predigt ausging, die Ralf-Andreas Gmelin am 30. Dezember 2001, dem ersten Sonntag nach dem Christfest gehalten hat:

"Jauchzet, ihr Himmel; freue dich, Erde! Lobet, ihr Berge, mit Jauchzen! Denn der HERR hat sein Volk getröstet und erbarmt sich seiner Elenden.

14 Zion aber sprach: Der HERR hat mich verlassen, der Herr hat meiner vergessen.

15 Kann auch ein Weib ihres Kindleins vergessen, daß sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und ob sie seiner vergäße, so will ich doch deiner nicht vergessen.

16 Siehe, in die Hände habe ich dich gezeichnet; deine Mauern sind immerdar vor mir."

Am Beginn des Gottesdienstes stand ein Gedicht:

Andreas Gryphius hat zum heutigen ersten Sonntag nach dem Christfest ein Gedicht verfasst. Er schreibt es vor dem Jahr 1639. In Deutschland tobt in diesen Jahre der Dreißigjährige Krieg und sein Ende ist nicht abzusehen. Gryphius hatte als Kind schon früh seine Eltern verloren. Das einsame Kind von einst erhebt als Dichter das Kind von Bethlehem zum wichtigsten Hoffnungszeichen:

O Wunder! Gott ist Mensch, die Mutter hat geboren,.

Die Jungfrau war und blieb.

Der aller Kräfte bind't

Durch seiner Worte Krafft, liegt als ein schwaches Kind

Gewindelt in ein Band und hat doch nicht verlohren

Was groß und göttlich heist.

Der Held vorlängst verschworen

Dem, den der Starcke zwang

kömmt an und tilgt die Sünd,

Er bauet was zustört und was er dürfftig find't.

Das hat er zu dem Sitz der Herrlichkeit erkohren.

Wohl dem, so bey ihm hält,

ob schon das blosse Schwerdt

Scharff durch das zarte Fleisch und liebe Seele fährt;

Er ist der Felß, an dem ein jeder auff mag stehen.

Weh, weh, und ewig weh dem, der ihm widerspricht!

Diß ist der Felß,

an dem er Haupt und Hertz zubricht

Wer an den Stein anstößt, muß schändlich untergehen.

Gryphius gilt als einer der bedeutendsten Barockdichter. Sein Weihnachtsgedicht spiegelt seine ungewisse Zeit: Niemand weiß, was ein neues Jahr bringen wird, weder seinerzeit noch heute. Alles was für Gryphius zählt, ist das Vertrauen auf Gott. Obwohl die Waffen des Krieges reiche Ernte halten, ist der Stein des Anstosses nicht die Willkür der Soldaten, sondern der, der als schwaches Kind von einer Mutter geboren wird. Beneidenswert für unsere Zeit, die der Ungewissheit eher Zynismus und Zweifel entgegenhält.

Die Predigt lautet:

"Der HERR hat mich verlassen, der Herr hat mich vergessen."

Ist das die Klage der Erde über die Verhältnisse, die auf ihr herrschen? Ihre Zustandsbeschreibung vor dem Jahreswechsel?

Der krisengeschüttelte Raum nördlich des indischen Subkontinents hat sich noch nicht von dem Afghanistan-Krieg erholt, da stellt sich auch schon eine neue "Schlacht" ein. Zwischen Pakistan und Indien fallen in Kashmir Schüsse. Diesmal zwischen zwei politisch labilen Atommächten. An der Grenze in Kashmir haben die ersten Soldaten ihr Leben verloren. Nicht die ersten: Seit der Kolonialzeit mussten im Kashmir-Konflikt etwa 70 000 Menschen ihr Leben lassen.

Der Weltterrorismus scheint zwar für einige Wochen den Atem anzuhalten, aber niemand glaubt, dass mit der Bombadierung Afghanistans wirklich ein Schlag gegen diese neue Form der Massenvernichtung gelungen ist. Der Terrorist alten Zuschnitts hatte noch politische Ziele, die seine Verbrechen im Zaum hielten. Die Terroristen von Al Qaida oder der japanischen Aum-Sekte morden zügellos im Namen eines religiösen Vernichtungswahns, der sie völlig unkontrollierbar macht.

Das Drama um Israel und Palästina spitzt sich ein weiteres Mal zu. Yassir Arafat zeigt offensiven Friedenswillen und Israel zeigt offensives Misstrauen gegen Arafat. Nichts Neues, aber eine neue explosive Lage und immer wieder fallen Menschenleben zum Opfer. Nicht zuletzt in Zion, der Stadt, die in dem Wort aus dem Jesajabuch im 6. Jahrhundert vor Christus im Mittelpunkt steht.

Drei Blicke in die Welt, wo Menschen mit ihrer gespenstischen Zerstörungswut die Zukunft verdunkeln:

Hat diese Welt nicht Recht, wenn sie klagt: "Der HERR hat mich verlassen, der Herr hat mich vergessen"?

Als diese Worte verkündet werden, liegt die Heimat in Schutt. Die Klage kommt aus dem Flüchtlingslager. Es gibt keinen Hoffnungsschimmer am Horizont und dennoch strahlt aus der Prophezeiung eine unerschrockene Hoffnung: "Kann auch ein Weib ihres Kindleins vergessen, daß sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und ob sie seiner vergäße, so will ich doch deiner nicht vergessen." Gottes Liebe ist noch treuer als die Liebe einer Mutter. Auch wenn alles zerstört ist, was mir mal etwas wert war: Ich glaube, dass Gott wieder etwas Gutes daraus bauen wird.

Das Volk im Flüchtlingslager, machtlos, entehrt, geduldet und misstrauisch kontrolliert: Es hört die gewaltige Hoffnungsbotschaft: Gott wird es gut machen. Gott hat sich Zion auf die Handflächen gezeichnet, damit er Zion niemals vergisst.

Diese Hoffnungsbotschaft will uns anstecken. Uns, denen vielleicht die Konflikte unserer Welt ein bisschen näher gerückt sind, deren Leben aber noch lange nicht vergleichbar ist mit dem im Flüchtlingslager in der babylonischen Gefangenschaft, wo diese Hoffnungsbotschaft entstanden ist.

Im übertragenen Sinn hat mancher von uns auch seine Heimat verloren: Einige haben im vergangenen Jahr von Menschen Abschied genommen, die für immer von ihnen gegangen sind, mancher hat einen festen Platz in seinem Berufsalltag verloren, mancher hat sich mit seinem Bruder oder seiner Schwester zerstritten und damit den lebendigen Bezug zu seinen Kindertagen verloren.

Das Flüchtlingslager, in dem wir Leben, ist die kurze Frist, die uns für unser Leben gegeben ist. Mit unseren Verlusten bekommen wir ein Vorzeichen dafür, dass wir keine bleibende Statt haben, dass wir hier nicht für immer bleiben können auf dieser Erde, inmitten der Zeit. Das sollte uns einfallen, wenn wir uns angesichts der Flüchtlinge in unserem Land für die besseren Menschen halten. Ihr Flüchtlingslager ist mit dem Flüchtlingsdasein des Menschen eng verwandt: Niemand von uns kann sich gemütlich zurücklehnen und denken, das geht mich nichts an. Menschen in Not und Elend haben den Satten und in Komfort lebenden Menschen immer das Eine voraus: Sie erleben die Wirklichkeit unseres begrenzten Lebens schon im Voraus.

"Jauchzet, ihr Himmel; freue dich, Erde! Lobet, ihr Berge, mit Jauchzen! Denn der HERR hat sein Volk getröstet und erbarmt sich seiner Elenden."

So heißt der Jubel aus dem Flüchtlingslager. Das ist die lebendige Hoffnung unter den Flüchtlingen. Ein Jubel, der manchmal von Wohlstand, Besitzstandswahrung und Zaghaftigkeit bei den Reichen und Zufriedenen erdrückt wird.

Wir haben ein Weihnachtsfest hinter uns, die meisten von uns haben zu diesem Fest die beglückende Botschaft bekommen: "Ich denke an Dich." Als Päckchen, als Postkarte, als Brief, mail oder Telefonanruf. Gründe dafür, dass wir uns gut fühlen können. Aber jauchzen?

Gott gibt seinem Volk Kraft und neigt sich herunter zu denen, die schwach und entrechtet sind. Die Botschaft wirkt um so mächtiger, wo sie auf Menschen trifft, die spüren, dass ihr Leben ein Ziel hat, und wir davon müssen.

Erinnern Sie sich an den Barockdichter Andres Gryphius? An den Dichter, der von klein auf Not und Elend des Krieges kennengelernt hat? An den Menschen, der schon früh beide Eltern verloren hatte. An sein Sonett für den heutigen Sonntag, in dem es heißt:

"O Wunder! Gott ist Mensch, die Mutter hat geboren,

Die Jungfrau war und blieb.

Der aller Kräfte bind't

Durch seiner Worte Krafft, liegt als ein schwaches Kind

Gewindelt in ein Band und hat doch nicht verlohren,

Was groß und göttlich heist.

Der Held vorlängst verschworen

Dem, den der Starcke zwang

kömmt an und tilgt die Sünd,

Er bauet was zustört und was er dürfftig find't."

Gryphius nimmt genau diese Hoffnung aus der Weihnachtskrippe: Der allmächtige Gott kommt in seine Welt stellt die Welt auf den Kopf:
Er baut auf, was vernichtet wurde

und kümmert sich um das, was im Argen liegt.

Vielleicht gehört es zu den Regeln der Geschichte, dass die größten Hoffnungszeichen immer aus Zeiten stammen, in denen es wenig Grund zur Hoffnung gab.

Ich wünsche uns allen, dass sich unsere Hoffnung wie eine Kerze an der Flamme solcher Hoffnung entzündet. Dass unsere Hoffnung nicht in der Krippe von Bethlehem liegen bleibt, sondern aufersteht und hinein in unser Leben kommt. Denn für uns wird dieser Heiland geboren, welcher ist Christus der Herr.

Solche Hoffnung entzünde in uns, DU,

denn dein Friede, welcher höher ist denn alle Vernunft, bewahre unsre Herzen und Sinne in Christo, Jesu, Amen.