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Predigt am 19. Sonntag nach Trinitatis, 21. Oktober 2001, über Johannes 5, 1-1.
Von der Heilung eines Menschen, der 38 Jahre krank war.


Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus.
Der Predigttext für diesen 19. Sonntag nach Trinitatis steht im Johannesevangelium, im 5. Kapitel, in den Versen 1-16.

1 Es war ein Fest der Juden, und Jesus zog hinauf nach Jerusalem. 2 Es ist aber in Jerusalem beim Schaftor ein Teich, der heißt auf hebräisch Betesda. Dort sind fünf Hallen; 3 in denen lagen viele Kranke, Blinde, Lahme, Ausgezehrte. 5 Es war aber dort ein Mensch, der lag achtunddreißig Jahre krank. 6 Als Jesus den liegen sah und vernahm, dass er schon so lange gelegen hatte, spricht er zu ihm: Willst du gesund werden? 7 Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt; wenn ich aber hinkomme, so steigt ein anderer vor mir hinein. 8 Jesus spricht zu ihm: Steh auf, nimm dein Bett und geh hin! 9 Und sogleich wurde der Mensch gesund und nahm sein Bett und ging hin.
Es war aber an dem Tag Sabbat. 10 Da sprachen die Juden zu dem, der gesund geworden war: Es ist heute Sabbat; du darfst dein Bett nicht tragen. 11 Er antwortete ihnen: Der mich gesund gemacht hat, sprach zu mir: Nimm dein Bett und geh hin! 12 Da fragten sie ihn: Wer ist der Mensch, der zu dir gesagt hat: Nimm dein Bett und geh hin? 13 Der aber gesund geworden war, wusste nicht, wer es war; denn Jesus war entwichen, da so viel Volk an dem Ort war. 14 Danach fand ihn Jesus im Tempel und sprach zu ihm: Siehe, du bist gesund geworden; sündige hinfort nicht mehr, dass dir nicht etwas Schlimmeres widerfahre. 15 Der Mensch ging hin und berichtete den Juden, es sei Jesus, der ihn gesund gemacht habe. 16 Darum verfolgten die Juden Jesus, weil er dies am Sabbat getan hatte.

Herr, tue meine Lippen auf, dass mein Mund deinen Ruhm verkündige.

Ich muss etwas erklären zu dieser Geschichte, denn so verkürzt, wie sie hier steht, ist sie nicht ganz verständlich. Man erfährt ja nicht genau, was es mit diesem seltsamen Teich auf sich hat, der in Jerusalem beim Schaftor ist und der auf hebräisch Betesda heißt, und was mit den fünf Hallen, die da stehen, in denen viele Kranke, Blinde, Lahme und Ausgezehrte liegen. Betesda heißt verdeutscht „Haus der Barmherzigkeit“ und es muss wohl so etwas gewesen sein wie ein Krankenhaus, eine Kranken- und Siechenstation, ein Kurort vielleicht, gebaut an einer Wunderquelle, an eben jenem merkwürdigen Teich. Weil die Geschichte so nicht ganz verständlich ist, haben spätere Überlieferungen den ursprünglichen Text des Johannesevangeliums ergänzt.
In der Lutherbibel ist man zum ursprünglichen Text zurückgekehrt, und dabei sind zwei den Zusammenhang erhellende Verse herausgefallen, die von den Lahmen und Blinden und Ausgezehrten folgendes berichten: Alle diese Kranken warteten darauf, dass das Wasser sich bewegte, denn – so heißt es – „der Engel des Herrn kam von Zeit zu Zeit herab in den Teich und brachte das Wasser in Bewegung. Wer nun zuerst, - so heißt es weiter - nachdem sich das Wasser bewegt hatte, hineinstieg, der wurde gesund, welches Leiden er auch hatte.“
Daher die fünf Hallen und die vielen Kranken. Sie warten darauf, dass der Engel herabsteigt, das Wasser bewegt und das Wunder geschieht.

Ein rührender Glaube, eigentlich, dass ein Engel Heilung bringt. Wer kennt die Sehnsucht nicht?

Aber was ist das für eine Religion, die nur den Erfolgreichen dient, was ist das für ein Engel, der immer nur den Ersten hilft, nur denen, die – wenn auch nur ein einziges Mal ist – es geschafft haben, erster zu sein?
Und was ist dann mit denen, den vielen, die ständig erleben, dass sie nie die Ersten sind? Man könnte erwarten, dass sie weggehen von diesem sogenannten „Haus der Barmherzigkeit“, das in Wahrheit ja ein ganz unbarmherziger Ort des Leides und sinnlosen Wartens ist.
Aber sie gehen nicht weg, sie bleiben, warten weiter im Bann dieser gegen Null strebenden Chance, einmal eben doch der oder die Erste zu sein und dann wunderbar geheilt aus dem Wasser zu steigen.

Auch unser Mann ist im Bann dieser Hoffnung gefangen und das hat ihn mehr als einsam gemacht. 38 Jahre lang wartet er auf Heilung. 38 Jahre lang ist er krank. Es wird nicht gesagt, was ihm fehlt oder was er hat. Er liegt, kann sich offensichtlich nicht allein bewegen oder orientieren, muss gebracht, vielleicht getragen werden. Er ist langsam, lahm, gelähmt, starr, steif. Die Lähmung ist nicht nur äußerlich. Da ist auch keine Regung, keine Bewegung mehr in seiner Seele. Er wird auch seelisch erstarrt sein in den 38 Jahren, im Warten erstarrt, obwohl das Warten auf das Wunder des engelbewegten Wassers sich als so sinnlos erwiesen hat.

Zur körperlichen und seelischen Lähmung kommt die soziale Isolation, die Einsamkeit. Er hat niemanden, so sagte er selbst, der ihn in den Teich bringt, keinen Menschen, keinen Freund mehr, der sich seiner noch annehmen wollte.
Das hält ja auch keiner aus, einen, schon gar nicht einen Freund, 38 Jahre lang liegen sehen, gefangen in Lähmung und Starrsinn, das hält keiner aus, weder physisch noch psychisch. Das weiß jeder, der einen lieben Menschen nur einen Bruchteil dieser Zeit gepflegt hat. Bei jemandem der immer nur die Rolle des Opfers übernimmt, mag keiner bleiben. Da friert jede Beziehung ein.
Aber der Mann kennt offensichtlich keine Alternative zu dem Leben, in dem er sich eingerichtet hat.

In mein Mitleid mischt sich Aggression. Wie kann einer nur so dumpf und stur sein? Und ich spüre – aber auch das ist nicht verwunderlich, denn am meisten lehnt man ja bekanntlich das ab, was man von sich selber nur all zu gut kennt – ich spüre, wie die Konturen dieses Mannes da in Betesda meinen Konturen ähnlich werden.

Wie lange halte ich schon Unzumutbares aus?
Wie lange warte ich schon auf ein Wunder, auf eben jenen Engel,
der da kommen und mich oder wenigstens etwas in mir in Bewegung bringen und Erlösung, Heilung schaffen soll?
Wie lange habe ich mich schon auf eine bestimmte Rolle
– vielleicht auch die Opferrolle – festgelegt?
Und ich überlege: Wie lange hat es gedauert, bis mir diese Rolle zur zweiten Haut wurde, und dahinter mein wahres Ich, meine Lebendigkeit und Lebensfreude verloren ging und schließlich und endlich weder mir selbst noch irgendwem sonst noch kenntlich war.
Ich kenne es von mir und ich weiß es von anderen: Fünf Jahre - oder mehr - war er an einem Arbeitsplatz, der ihm nicht mehr entsprach und konnte doch nichts ändern und sechzehn Jahre - oder mehr - hat sie in einer Beziehung gelebt – nein: war sie in einer Beziehung erstarrt (!), aus der alle fröhliche Lebendigkeit gewichen war, aus ihr und aus ihm.
Hinter der Unfähigkeit, den Schritt zu tun, lebt die Angst vor dem Unbekannten, lähmende Angst, nicht zu wissen, was danach kommt, wie dann alles weitergeht, wenn die Freiheit wirklich ergriffen wäre. Gesund werden an Leib und Seele, na freilich, der Wunsch ist immer vor uns. Aber ist es wirklich ein Fluch oder insgeheim eben doch auch ein Glück, dass die alten Lebensmuster uns nicht so einfach frei geben, denn täten sie das, müssten wir uns ja auch selber wirklich ändern.
Wer herauskommen will, aus dem, was er oder sie heute und vielleicht schon viele Jahre lang lähmt, muss einen bitteren Kampf kämpfen – und was ist dann, danach? Und willst du das wirklich?

Auf einmal ist Jesu Frage eine Frage an mich selbst geworden:
Willst Du gesund werden? Willst Du deine Opferrolle ablegen und endlich die dir von Gott zugedachte Freiheit ergreifen und selbst verantwortlich werden für dein Leben und dein persönliches Glück?

- Ja, aber ich habe doch niemanden, keinen Menschen, der mir dazu hilft und selber bin ich viel zu lahm und langsam und komme immer zu spät.

„Steh auf“ ist die Antwort, „nimm dein Bett und geh.“
Und sogleich wurde der Mensch gesund.

Der Aufgestandene nimmt seine Bahre und geht aufrecht und hat sein Schicksal in eigene Hände genommen und trägt es jetzt selbst.

Wenn ich mir dieses Geschehen vergegenwärtige und nachvollziehe, wie Jesus Menschen in Kontakt bringt mit der Lebendigkeit des Lebens und dem Mut zum Sein, zum Aufstehen aus der Lähmung - und wäre es eine von 38 Jahren - und wenn ich nachvollziehe, wie er den Starren in Bewegung setzt, dann verstehe ich, warum die Geschichte so weitergeht, wie hier beschrieben, und auch warum Jesu Geschichte so enden musste, wie sie geendet hat.

Wenn ein Gelähmter aufsteht und davon geht und von nun an seine Bahre selber trägt, dann bringt ihn das unweigerlich in Konflikt mit der Ordnung derer, die wollen, dass alles bleibt, wie es ist. Auch der Aufgestandene gerät in Konflikt: „Wie, es ist Sabbat und du trägst eine Bahre?“ Aber der Aufgestandene hält seine Bahre weiter hoch und fast trotzig den Hütern der Ordnung entgegen, die da sagen: „Heute darfst Du deine Matte nicht tragen!“
Und er sagt ihnen: „Doch, denn der mich gesund gemacht hat, der hat’s gesagt.“ Und er geht weiter, Schritt um Schritt, aus seiner Isolation heraus in den Tempel, sei es, um zu loben oder zu feiern oder um bei den anderen zu sein und sich zu zeigen. Und jeder Schritt ist ein Schritt der Befreiung, die der Aufgestandene selber geht, und dabei die Bahre, die 38 Jahre nicht verleugnend, nicht vergessend, sondern immer im Bewusstsein, die Bahre immer dabei.
Im Tempel trifft ihn Jesus zum zweiten Mal und spricht ihn wieder an und sagt: “Siehe, du bist gesund geworden“, als wäre er es ohne die selbst gesetzten Schritte noch nicht wirklich gewesen.
„Sündige nicht mehr“, sagt er noch, „damit dir nicht Schlimmeres zustößt!“
Da schwingt Wissen mit, dass die Freiheit, zu der uns Christus befreit, die Heilung, nicht unser Besitz und uns nicht verfügbar ist. Sie ist gewährte Gnade, Geschenk, bei jedem gefährdet, der nicht achtsam damit ist.
Sich von dieser Gnade zu trennen, sich abzusondern von dem, was Gott in seiner Liebe gewährt, sich von der Freiheit abzukehren, zu der er uns befreit hat, und die er uns anbietet: das ist Sünde und Rückfall in Sklaverei und Knechtschaft unter das Joch, das Menschen einander auferlegen, Rückfall in Lähmung und Einsamkeit. Es klingt hier schon an, was Paulus später deutlich ausspricht: „Ihr seid teuer erkauft, darum werdet nicht wieder Knechte der Menschen.“

Wie es geschehen kann, dass einer, der 38 Jahre lang war, aufsteht, ich verstehe es nicht und spüre doch: es hat auch ganz viel mit mir zu tun, mit der Art und Weise, wie ich lebe und wie ich bin, mit meiner Angst, mit dem, was mich gefangen hält und schwächt und kränkt und mir unter den Menschen Selbstwertgefühl, Mut und Ehre nimmt, die ich bei Gott wohl habe. Und ich ahne, dass da, wo ein Leben aufsteht gegen das, was es am Boden hält, dass da Gott selbst am Werk ist und Jesus Christus mit ihm.

Da wollten wir nur eine alte Geschichte hören und sind doch mittendrin im eigenen Leben. Möge der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, unsere Herzen und Sinne bewahren im rechten Glauben zum ewigen Leben. Amen.

(Predigtmaterial: Rolf Stieber, Provokation zum Leben, in: Predigtstudien, Perikopenreihe V – Zweiter Halbband, Stuttgart 2001, hg.von Volker Drehsen u.a., S. 190 – 194.)